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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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ähnliche Fälle erlebt.
    »Ich werde wiederkommen«, sagte Monk kurz. »Vielleicht taucht er ja doch noch auf.«
    »Wie Sie wollen«, erwiderte der Sergeant.
    Monk verließ das East End und fuhr wieder nach Westen, um an anderer Stelle seine Nachforschungen fortzusetzen. Je mehr er an das Gesicht dachte, das Enid Ravensbrook gezeichnet hatte, um so mehr war er davon überzeugt, daß es eine Nachlässigkeit wäre, einfach Genevieves Worten Glauben zu schenken und Angus' Rechtschaffenheit und beinahe langweilig respektables Leben als Tatsache hinzunehmen. Der Sergeant der Flußpolizei hatte ihn einen Augenblick lang für einen Verwandten von Monk gehalten, einfach wegen einer gewissen äußerlichen Ähnlichkeit. Welche Worte hätte Monk für die Beschreibung seines eigenen Gesichts benutzt? Wie konnte man einem anderen etwas vom Wesen eines Menschen vermitteln? Nicht durch die Farbe seiner Augen oder seines Haars, nicht durch sein Alter, seine Größe oder sein Gewicht. Auch in seinem Gesicht lag ein verwegener Zug. Er erinnerte sich an das Erschrecken, als er sein Gesicht nach seiner Rückkehr aus dem Hospital zum erstenmal im Spiegel gesehen hatte. Damals war es das Gesicht eines Fremden gewesen, eines Mannes, über den er nichts wußte. Aber er hatte auch die Kraft gesehen, die sich in der Nase, den glatten Wangen, dem dünnen Mund und der Festigkeit des Blicks ausdrückte.
    In welcher Hinsicht unterschied Angus Stonefield sich von ihm, so daß sie niemals hätten Brüder sein können? Es war da, aber er konnte es nicht einordnen, es war etwas schwer Faßbares, etwas seiner Meinung nach Verletzliches.
    Steckte dieses Verletzliche in dem Mann selbst oder nur in Enid Ravenbrooks Skizze?
    Er verwandte noch einmal anderthalb Tage darauf, sich ein möglichst klares Bild von Angus zu machen. Was zum Vorschein kam, war ein durch und durch anständiger Mann, den die Menschen, die ihn kannten, nicht nur respektierten, sondern wirklich mochten. Wenn er irgend jemanden gekränkt haben sollte, hatte Monk es jedenfalls nicht geschafft, den Betreffenden ausfindig zu machen. Angus besuchte regelmäßig den Gottesdienst. Seine Angestellten hielten ihn für großzügig, seine Konkurrenten in jeder Hinsicht für fair. Selbst die, denen er ein gutes Geschäft weggeschnappt hatte, fanden an ihm nichts auszusetzen. Wenn irgend jemand eine Kritik äußerte, dann bezog sie sich auf die Tatsache, daß sein Sinn für Humor ein wenig schwerfällig und er im Umgang mit Frauen übertrieben förmlich war, was wahrscheinlich seiner Schüchternheit entsprang. Gelegentlich verwöhnte er seine Kinder und ließ es an der Art Disziplin mangeln, die gemeinhin als angemessen galt. Alles Schwächen eines vorsichtigen und freundlichen Mannes.
    Monk suchte Titus Niven auf. Er wußte nicht, was er sich von diesem Besuch versprach, aber möglicherweise wußte er Dinge von Angus Stonefield, über die sonst niemand gern sprach.
    Genevieve hatte ihm Nivens Adresse gegeben, eine Seitenstraße der Marylebone Road. Bis dorthin war es etwa eine Meile. Sie hatte ihn ein wenig ängstlich angesehen, ihn aber nicht gefragt, ob er glaubte, von Niven etwas erfahren zu können.
    Das erstemal, als Monk dort vorsprach, war niemand zu Hause, bis auf ein sehr junges Dienstmädchen, das ihm sagte, Mr. Niven sei ausgegangen und sie habe keine Ahnung, wo er sich aufhalte oder wann er zurückkommen werde.
    Monk konnte die Spuren der Armut sehen, die ihn aus allen Ecken anstarrten, aus den hageren Zügen des Mädchens, der Hanfmatte auf dem Fußboden, der kalten Luft, die nach Feuchtigkeit und Ruß roch. Es war keine arme Wohngegend; im Gegenteil, es war eine sehr wohlhabende, in der nur die Bewohner dieses einen Hauses in äußerst beschränkten Verhältnissen lebten. Dieser Umstand rief Erinnerungen in ihm wach, aber sie waren nur undeutlich, es war weniger ein Gefühl der Angst als des Zorns und des Mitleids.
    Als er am Abend noch einmal vorsprach, öffnete ihm Titus Niven persönlich die Tür. Er war ein hochgewachsener Mann, schlank, mit einer langen Nase und einem sensiblen Gesicht voller Humor, in dem im Augenblick eine Mischung aus Selbstverachtung und Hoffnung gegen die Verzweiflung kämpfte. Monk mochte den Mann instinktiv, aber seine Intelligenz mahnte ihn zur Vorsicht. Er war der einzige Mensch, von dem sie wußten, daß er Grund hatte, auf Angus Stonefield wütend zu sein. Wie erfolgreich er in der Vergangenheit gewesen war, konnte Monk nicht einschätzen, bevor er

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