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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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starrte Monk an und suchte offensichtlich nach irgendeinem Argument, mit dem sie ihn überzeugen konnte, aber noch während sie das tat, wurde diese Hoffnung geringer und löste sich schließlich ganz auf. Sie konnte an seinem Gesicht ablesen, daß er sie durchschaut hatte. Caleb konnte seinen Bruder sehr wohl getötet haben, und das wußten sie beide - sie, weil sie Caleb kannte, und er, weil er es in ihren Augen gelesen hatte.
    Der Kessel begann auf der heißen Herdplatte zu vibrieren.
    »Sie werden ihn nie kriegen!« sagte sie verzweifelt; ihre Angst und zugleich der Wunsch, Caleb zu beschützen, hielten sich jetzt die Waage. »Sie werden ihn niemals schnappen.«
    »Vielleicht nicht. Mir ist es viel wichtiger zu beweisen, daß Angus tot ist.«
    »Warum?« fragte sie scharf. »Das ist noch lange kein Beweis, daß Caleb es getan hat, und damit werden Sie ihn nicht schnappen… und erst recht nicht hängen. So sicher wie alle Feuer der Hölle.« Ihr Gesicht verriet ihre Erschütterung, und ihre Stimme klang gepreßt.
    »Damit seine Frau als Witwe anerkannt werden kann«, antwortete er. »Und damit seine Kinder etwas zu essen haben.«
    Sie atmete tief durch. »Da kann ich nichts dran tun, nicht mal, wenn ich wollte.« Sie gab sich alle Mühe, ihn und auch sich selbst davon zu überzeugen, schien aber hin und hergerissen zu sein, wem nun ihre Loyalität galt.
    »Das haben Sie bereits getan«, erwiderte er. »Ich wußte, daß Angus das letzte Mal hier gesehen worden ist, auf dem Weg nach Blackwall Reach. Danach hat ihn niemand mehr zu Gesicht bekommen.«
    »Ich werde es abstreiten!«
    »Natürlich werden Sie das. Caleb ist Ihr Mann. Selbst wenn er das nicht wäre, würden Sie es nicht wagen, etwas zu sagen, das ihm nicht in den Kram paßt.«
    »Ich habe keine Angst vor Caleb«, sagte sie trotzig. »Er würde mir niemals etwas antun.«
    Er machte sich nicht die Mühe, dies zu bestreiten. Es war nur eine weitere Behauptung, von der sie beide wußten, daß es eine Lüge war.
    »Vielen Dank«, sagte er gelassen. »Auf Wiedersehen… für den Augenblick.«
    Sie antwortete nicht. Der Kessel auf dem Herd begann zu dampfen.
    Monk ließ die Manila Street hinter sich und ging nach Osten durch die West India Docks auf demselben Weg, den Angus Stonefield eingeschlagen haben mußte. Dann verbrachte er den ganzen Nachmittag damit, die Docks und die Elendsviertel entlang der Isle of Dogs und das Blackwall Reach zu durchkämmen. Caleb Stone war in dieser Gegend gut bekannt, aber niemand wollte ihm verraten, wo er steckte. Die meisten konnten sich nicht einmal daran erinnern, wann sie ihn das letzte Mal gesehen hatten.
    Ein Messerschleifer gab zu, daß er vor zwei Tagen mit ihm gesprochen hatte, und ein Händler erzählte Monk, daß er Stone vor einer Woche ein Seil verkauft habe; der Besitzer der Polly House Tavern hatte ihn regelmäßig gesehen, aber keiner von ihnen wußte, wo man ihn zu irgendeiner bestimmten Zeit antreffen konnte, und alle sprachen sie seinen Namen mit äußerster Vorsicht aus, nicht unbedingt angstvoll, aber doch auch nicht unbesonnen. Monk zweifelte nicht daran, auf wessen Seite sie stehen würden, wenn man sie jemals zu einer Entscheidung zwingen sollte.
    Als es dämmerte, kehrte er Blackwall den Rücken und war froh, in die Fitzroy Street zurückkehren zu können, um sich zu säubern und wieder so zu kleiden, wie er es gewohnt war. Anschließend wollte er zum Haus der Ravensbrooks gehen, um Genevieve Bericht zu erstatten. Immerhin hatte er diesmal etwas zu berichten und außerdem eine Verabredung zum Essen mit Drusilla Wyndham. Schon der Gedanke an sie entlockte ihm ein Lächeln. Es war wie ein süßer Duft nach all dem Schmutz und dem Gestank der Isle of Dogs, wie Lachen und leuchtende Farben nach all dem grauen Elend.
    Er trug seine allerbeste Jacke, vielleicht weil er an Selina gedacht hatte und an ihre Meinung von ihm, aber vor allem, weil es der Stimmung entsprach, die der Gedanke an Drusilla bei ihm hervorrief. Er konnte ihr Gesicht vor seinem inneren Auge sehen: die großen haselnußbraunen Augen, den zarten Schwung ihrer Brauen, die weiche Fülle honigfarbenen Haars, die Art, wie in ihren Wangen Grübchen erschienen, wenn sie lächelte. Sie besaß Anmut und Charme, Selbstsicherheit und Witz. Sie nahm nichts allzu ernst. Sie war eine Freude für Augen und Ohren, für Geist und Gefühl. Sie schien immer genau zu wissen, was sie sagen, und sogar, wann sie schweigen sollte.
    Er betrachtete sich im Spiegel

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