Sein Bruder Kain
die Spur, und er stand mutterseelenallein in dem grauen, windgepeitschten Regen an einem verlassenen Hafenbecken. Düstere, hochgeladene Lastkähne schoben sich lautlos durch den Nebel flußaufwärts, Stimmen klangen in einem seltsamen hohlen Singsang über das Wasser, und die hereindrängende Flut wisperte im Kies des Strandes.
Er versuchte von neuem sein Glück - mit hochgestelltem Kragen, nassen Füßen und entschlossener Miene. Caleb Stone würde ihm nicht entwischen, und wenn er jede Hütte und jedes Haus am Fluß durchkämmen mußte, jede verfallene, klapprige Holzbehausung, jeden Hafen und jeden Kai, jede dunkle, schlammüberzogene und vom Meerwasser überflutete Treppe, die in den Fluß hinunterführte. Er fragte, schikanierte, beschwatzte und bestach.
Gegen halb vier wurde das Licht schwächer. Er stand auf dem Canal Dock Yard und blickte über den Fluß zu den Chemiefabriken und den Greenwich Marshes auf der anderen Seite, die in Regen und Nebel gehüllt waren. Er hatte Caleb wieder einmal um Haaresbreite verpaßt, diesmal um nicht mehr als eine halbe Stunde. Er fluchte lange und ausgiebig.
Ein Kahnführer, breitschultrig und O-beinig, der am Stiel seiner Tonpfeife kaute, kam mit schaukelndem Gang auf ihn zu.
»Wollen Sie sich da vielleicht reinstürzen?« fragte er fröhlich.
»So wie Sie aus der Wäsche gucken, würde mich das nicht wundern. Aber das Wasser ist mächtig kalt. Verschlägt Ihnen den Atem, bestimmt.«
»Es ist überhaupt verdammt kalt hier draußen«, sagte Monk ungehalten.
»Aber das ist noch nichts im Vergleich zum Wasser«, entgegnete der Kahnführer, der immer noch lächelte. Er schob die Hand in die Tasche seines blauen Mantels und förderte eine Flasche zutage. »Nehmen Sie 'n Tropfen davon. Kuriert nicht viel außer der Kälte, aber das ist immerhin etwas!«
Monk zögerte. Es konnte irgendein Teufelszeug sein, aber er war durchgefroren und von Zorn erfüllt. Er war so nah am Ziel gewesen.
»Aber Sie kriegen nichts, wenn Sie reinspringen wollen, hören Sie«, sagte der Kahnführer und schnitt eine Grimasse.
»Verschwende doch keinen guten Rum. Jamaika, der Rum. Gibt nichts Besseres. Waren Sie schon mal in Jamaika?«
»Nein. Nein, war ich nicht.« Das war wahrscheinlich die Wahrheit, und außerdem spielte es kaum eine Rolle.
Der Mann hielt ihm die Flasche noch einmal hin.
Monk nahm sie und setzte sie an die Lippen. Es war Rum, und sogar ein guter. Er nahm einen Schluck und spürte das Feuer in seiner Kehle. Dann gab er die Flasche zurück.
»Vielen Dank.«
»Warum kommen Sie nicht weg vom Wasser und essen 'n bißchen was. Ich hab' eine Pastete. Sie können die Hälfte kriegen.«
Monk wußte, wie kostbar eine Pastete war, eine ganze Pastete. Die Freundlichkeit des Mannes machte ihm plötzlich seine eigene Verwundbarkeit bewußt. Es gab zu viele Dinge, an denen er hing.
»Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte er freundlich. »Aber ich muß einen Mann finden, den ich gerade eben verpaßt habe.«
»Was für einen Mann?« erkundigte sich der Kahnführer zweifelnd, obwohl er die Veränderung in Monks Stimme nicht überhört haben konnte, auch wenn er seinen Gesichtsausdruck in dem schwächer werdenden Licht nicht erkennen konnte.
»Caleb Stone«, erwiderte Monk. »Ein gewalttätiger Mann, der fast mit Sicherheit seinen Bruder ermordet hat. Ich nehme nicht an, daß ich es beweisen kann, denn die Leiche könnte überall sein. Aber ich möchte für die Witwe herausfinden, ob er tot ist. Caleb selbst interessiert mich keinen Pfifferling.«
»Ach nein? Er hat seinen Bruder ermordet, und Ihnen ist es egal?« sagte der Kahnführer mit einem schrägen Seitenblick.
»Ich würde es beweisen, wenn ich könnte«, gab Monk zu.
»Aber ich werde dafür bezahlt, den Tod des Bruders zu beweisen, damit seine Witwe wenigstens bekommt, was ihr zusteht, und seine Kinder genug zu essen haben. Ich glaube, das ist ihr lieber als Rache. Würde Ihnen das nicht genauso gehen?«
»Doch, doch«, gab der Kahnführer ihm recht. »Doch, das wäre es. Sie suchen also Caleb?«
»Ja.« Monk starrte unverwandt auf den immer dunkler werdenden Fluß hinunter. Ob es einen Versuch wert war, jetzt noch auf die andere Seite überzusetzen? Er hatte keine Ahnung, wo er mit der Suche beginnen sollte oder ob Caleb mittlerweile zurückgekehrt war und gemütlich in irgendeiner behaglichen Kneipe auf der Isle of Dogs saß.
»Ich bring' Sie rüber«, erbot sich der Kahnführer plötzlich.
»Ich weiß, wo er
Weitere Kostenlose Bücher