Sein Bruder Kain
Isle of Dogs gegangen ist, daß es Mißstimmigkeiten zwischen den beiden Brüdern gegeben hat, daß sie sich häufig stritten oder prügelten, daß sie an diesem Tag zusammen gesehen wurden und daß niemand Angus seither zu Gesicht bekommen hatte, dann könnte das ausreichen, um die Polizei zu einer Suchaktion zu veranlassen. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß irgend jemand des Mordes überführt werden kann. Es ist nicht auszuschließen, daß Angus einen Unfall gehabt haben und in den Fluß gefallen sein könnte und daß die Leiche aufs Meer hinausgetrieben wurde. Er könnte sich sogar freiwillig abgesetzt und ein Schiff nach Gott weiß wohin genommen haben. Ich nehme an, Sie haben seine private und geschäftliche Finanzlage überprüft?«
»Natürlich! Daran gibt es nicht das geringste auszusetzen.«
»Dann sollten Sie besser versuchen, irgendwelche Beweise für einen Streit zu finden sowie glaubwürdige Zeugen herbeizuschaffen, die bestätigen, daß Angus den Schauplatz seiner letzten Begegnung mit seinem Bruder nicht verlassen hat. Bisher haben Sie nichts in der Hand, was polizeiliche Nachforschungen rechtfertigen würde. Tut mir leid.«
Monk fluchte und stand auf; sein Gesicht war starr vor ohnmächtiger Wut.
»Vielen Dank«, sagte er grimmig, ging zur Tür und verschwand, ohne sich noch einmal umzudrehen oder Rathbone anzusehen.
Rathbone saß fast eine Viertelstunde lang reglos da, bevor er den verschlossenen Aktenordner wieder öffnete. Entgegen seinem guten Vorsatz ließ ihn der Gedanke an Monks Dilemma, hinter dem offenbar ein schwieriger Fall steckte, nicht los. Monk schien davon überzeugt zu sein, daß ein Mord begangen worden war. Er wußte, wer getötet wurde, von wem, wo und warum, und doch konnte er nichts beweisen. Im Sinne des Gesetzes hatte alles seine Ordnung, aber moralisch betrachtet, handelte es sich um eine Monstrosität. Rathbone zermarterte sich das Gehirn, in welcher Weise er behilflich sein könnte.
Er lag die ganze Nacht wach, und trotzdem fiel ihm nichts ein. Monk war außer sich vor Zorn. Noch nie hatte er sich so ohnmächtig gefühlt. Er wußte, Caleb hatte Angus ermordet - der Mann hatte es sogar zugegeben -, und doch stand es nicht in seiner Macht, etwas in dieser Angelegenheit zu unternehmen. Er konnte nicht einmal Angus' Tod beweisen, um Genevieve zu helfen. Es war eine grauenvolle Ungerechtigkeit, die wie eine Wunde in ihm schwärte.
Aber er mußte Genevieve Bericht erstatten. Sie hatte ein Recht, wenigstens so viel zu wissen wie er.
Sie war nicht im Haus der Ravensbrooks. Ein adrettes Dienstmädchen mit frisch gestärkter Schürze und Häubchen informierte ihn darüber, daß Mrs. Stonefield nach Hause zurückgekehrt sei und jetzt nur noch tagsüber komme.
»Dann geht es Lady Ravensbrook besser?« erkundigte Monk sich schnell und mit einer Erleichterung, die ihn selbst überraschte.
»Ja, Sir, sie hat das Schlimmste überstanden, gedankt sei dem Herrn. Miss Latterly ist immer noch hier. Wollen Sie vielleicht mit ihr sprechen?«
Er zögerte nur einen Augenblick, währenddessen Hesters Gesicht mit solcher Klarheit vor seinem inneren Auge stand, daß er erschrak.
»Nein - vielen Dank. Ich muß mit Mrs. Stonefield sprechen. Ich werde es bei ihr zu Hause versuchen. Auf Wiedersehen.«
Genevieves Tür wurde von einem Hausmädchen geöffnet, das dem Aussehen nach etwa fünfzehn Jahre alt war; sein rundliches Gesicht wirkte verhärmt. Er nannte seinen Namen und fragte nach Genevieve. Sie führte ihn ins Besuchszimmer und bat ihn zu warten. Einen Augenblick später kehrte das Mädchen zurück und brachte ihn in den kleinen, sehr ordentlichen Salon mit einem Porträt der Königin, dem Klavier mit den schicklich verhüllten Beinen, einigen Stickereien und einer Reihe von Aquarellen, welche die Bucht von Neapel zeigten.
Was ihn für den Augenblick völlig sprachlos machte, war die Tatsache, daß Titus Niven am Feuer stand; sein Rock war immer noch so elegant geschnitten wie bei ihrer letzten Begegnung und auch genauso abgenutzt, seine Stiefel auf Hochglanz poliert und papierdünn, sein Gesicht noch immer geprägt von demselben Ausdruck trockenen, sarkastischen Humors. Genevieve stand dicht neben ihm, als hätten sie sich bis zu der Sekunde, als die Tür sich öffnete, angeregt unterhalten. Monk hatte das Gefühl zu stören.
Genevieve trat auf ihn zu, und ihr Gesicht verriet Interesse und Sorge. Sie war immer noch blaß, und um Augen und Mundwinkel zeigten sich nach wie vor
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