Seine einzige Versuchung
nach zehn Tagen auch noch den verordneten Anwendungen zu entziehen versuchte, reagierte der zuständige Arzt ungehalten angesichts ihrer Bockigkeit. Elli argumentierte, sie sehe keinen Sinn in Inhalationen, Moorbädern, Massagen und ähnlichem Tamtam, während man sich doch draußen durch die Bewegung an der frischen Luft viel besser erholen könne. Ihr rosiger Teint gab ihr Recht, und doch wollte sich ihr Arzt keine Vorschriften von seinen Patienten machen lassen, schon gar nicht von einer Frau! Er sah seine Autorität in Gefahr. Um sein Gesicht nicht zu verlieren, bestand er auf die Einhaltung der Anwendungen, kam ihr allerdings ein wenig entgegen, indem er ihr die Ausflüge an den Strand bei stürmischem Wetter nicht mehr strikt untersagte - sie hätte sich ohnehin darüber hinweggesetzt und sich wieder heimlich aus dem Sanatorium geschlichen. Am liebsten hätte er dieses eigensinnige Frauenzimmer wieder nach Hause geschickt, aber den Verlust eines Kurgastes von Rang und Namen konnte er sich nicht erlauben.
Es war zwar untersagt, Besucher zu empfangen, doch Briefkontakte zur Außenwelt widersprachen offenbar nicht den - vermutlich - gut gemeinten Absichten der Ärzteschaft des Hauses. Neben Post von Benthin trafen auch zahlreiche Briefe von Kabus ein. Machten Benthins Zeilen eher einen sachlichen und nüchternen Eindruck auf Elli, erschienen Kabus‘ Worte dagegen schmeichelhaft und heiter. Er verstand es durchaus, auch mit dem geschriebenen Wort zu verführen. Von Benthin erfuhr Elli Neuigkeiten, die seine politischen Bestrebungen betrafen. Es ginge nun endlich wieder voran, nachdem eine Zeitlang Stillstand für seine Ziele geherrscht hatte - unweigerlich fragte Elli sich, ob ihre Abwesenheit seine Arbeit so beflügelte. Jakob machte ebenfalls Fortschritte und bewältigte mit größerer Ausdauer und wachsender Selbständigkeit sein Schulpensum. Blöhm war zwar wie immer ein trockener Knochen - das war Benthins Art, sich im Brief humorvoll auszudrücken -doch hatte sich seine Arbeit mittlerweile zu einer großen Hilfe entpuppt. Es gelang dem Sekretär offenbar, Benthin für seine politischen Geschäfte den Rücken einigermaßen freizuhalten, Gerlachs Unterstützung natürlich nicht zu vergessen. Er erkundigte sich besorgt nach Ellis Gesundheitszustand und riet ihr, die Anweisungen der Ärzte zu befolgen. Auch wenn sie zu Hause vermisst würde, sei ihre Gesundheit vorrangig, und falls ihr zu einer Verlängerung ihres Aufenthaltes geraten würde, solle sie es um ihrer Gesundheit willen unbedingt tun. Auf Elli wirkten seine Briefe beinahe emotionslos. Alles schien bestens ohne sie zu laufen. Klangen seine Worte nicht schon fast wie die eines Politikers, der durch sein öffentliches Amt dem Zwang größter Sachlichkeit und ständiger Selbstkontrolle ausgeliefert war? Wie wohltuend für ihre Seele waren da hingegen die gefühlvollen, sehnsüchtigen Briefe von Kabus. Er schrieb nie in einer Art, die ihr moralisches Empfinden verletzt hätte, aber doch so anregend und verheißungsvoll, dass sie sich als Frau von ihm begehrt fühlte und sich in Gedanken mehr und mehr seiner unermüdlichen und wohltuenden Aufmerksamkeit hinzugeben begann. Sie erwies sich als überaus empfänglich für seine schönen Worte, die subtil, aber beharrlich an ihre Sinnlichkeit appellierten.
Inzwischen war Elli wieder so weit genesen, dass einer baldigen Abreise aus medizinischer Sicht nichts mehr im Wege stand. Sowohl Benthin wie auch Kabus brachten in ihren Briefen ihre Freude über die guten Nachrichten zum Ausdruck, jeder auf seine Art. Während Kabus es kaum erwarten konnte, sich endlich wieder mit Elli zu treffen, schlug Benthin vor, sie könne noch ein paar Tage zum Ausklang der Kur bei ihren Eltern auf dem Land verbringen, bevor das hektischere Stadtleben und der Alltag sie wieder einhole. Elli schätzte seine Umsicht, malte sich aber zugleich aus, er wolle sie womöglich noch ein paar Tage aus dem Weg haben, um noch ein wenig länger unbehelligt seinen Affären nachgehen zu können. Daher war sie umso überraschter, als er sie am Bahnhof beim Aussteigen aus dem Zugabteil so stürmisch an sich riss, dass ihr die Tasche aus der Hand fiel, die sie auf Reisen immer bei sich trug. Das schwere Gepäck wurde von bezahlten Trägern gebracht. Benthin hatte sie in seiner Wiedersehensfreude ein Stück angehoben. Ihre Füße berührten den Boden nicht mehr. Er drückte sie so fest an sich, dass ihr beinahe die Luft wegblieb. Dann setzte er sie
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