Seine einzige Versuchung
war vor wenigen Wochen schwer verletzt worden und musste nach medizinischem Ermessen noch immer von erheblichenSchmerzen geplagt werden, aber an Überzeugungskraft hatte er nichts eingebüßt. Er fragte sich, wie sein Patient erst auftreten würde, wenn er wieder ganz gesund wäre.
„Was schlagen Sie also vor, Herr von Benthin? Ich kann es nicht verantworten, dass Ihre Frau hier ein- und ausgeht und die anderen Patienten davon Wind bekommen. Ich kann es ebenso wenig verantworten, Ihre Schulter unbehandelt zu lassen.“ Seine Neugier war geweckt, welche Lösung ihm sein Patient präsentieren würde. Er war sicher, es gab in dessen Kopf bereits einen Plan, der seinem scharfen Verstand entsprach.
„Ich wohne mit meiner Frau im Hotel und komme täglich zu den Anwendungen hierher, zahle aber so, als wohnte ich auch hier. So haben Sie den Vorteil, ein Zimmer mehr belegen zu können bei zweifacher Bezahlung. Ein Angebot, das Sie nicht ablehnen können bei aller fachlichen und wirtschaftlichen Kompetenz, die ich Ihnen unterstelle.“ Sein Arzt gab sich geschlagen, vorerst zumindest:
„Sie haben gewonnen. Sie sind es gewohnt, sich durchzusetzen, sehe ich das richtig?“
„Einigen wir uns darauf: es fällt mir schwer, Dinge hinzunehmen, die ich nicht nachvollziehen kann.“ Benthins Ausstrahlung wirkte nicht nur auf Frauen unwiderstehlich. Er verstand es durchaus, auch Männer von sich, genauer gesagt, seinen Ansichten zu überzeugen. Benthins Haltung imponierte dem Oberarzt insgeheim. Er wollte und durfte sich jedoch das fachliche Ruder nicht aus der Hand nehmen lassen:
„Sollte sich ihr Zustand auch nur geringfügig verschlechtern, nehme ich Sie hier stationär auf, und wenn ich Sie fesseln und einsperren muss. Haben wir uns verstanden?“ Er zwinkerte Benthin zu.
„Ja, Sie sind der Chef.“ Mit diesem Kompromiss konnte er leben. Er wusste, es würde nicht dazu kommen. Mit den Anwendungen, dem Meeresklima und Ellis Nähe würde er bald wieder ganz der Alte sein.
Vor drei Wochen waren sie hier zusammen mit Jakob eingetroffen und besuchten ihn nun regelmäßig im Sanatorium. Ihn hatte es am schlimmsten getroffen. Als sich Jakob auf Kabus stürzte, konnte Benthin sich endlich unter ihm hervor winden. Kabus war so aufgebracht über den unerwarteten Angriff des Jungen, dass er die Waffe auf ihn richtete. Reflexartig ging Benthin dazwischen und verhinderte, dass Jakob unmittelbar von der Kugel getroffen wurde. Vermutlich hatte er dem Jungen damit das Leben gerettet. Die Kugel war durch Benthins Schulter in Jakobs Bauch eingedrungen und hatte seine eine Niere durchbohrt. Die Ärzte in der städtischen Universitätsklinikhatten tagelang um sein Leben gerungen. Benthin wäre seines Lebens nicht mehr froh geworden, hätte Jakob den Angriff nicht überlebt. Trotz seiner eigenen, schmerzhaften, aber weniger gefährlichen Verletzung, die bei jeder Bewegung erbarmungslos wehtat, quälte er sich immer wieder in dieAbteilung für Kinder, um nach dem Jungen zu sehen. Er machte sich schwere Vorwürfe, die Waffe mitgenommen und darauf bestanden zu haben, dass er ihn zum Tatort begleitete. Und doch hatte er nicht anders gekonnt - er war wahnsinnig vor Angst um Elli gewesen und hatte erst zu spät die Tragweite seiner, im Affekt gefällten Entscheidung erkannt. Benthin war nicht besonders gläubig, aber in diesen Tagen betete er verzweifelt darum, Jakob möge durchkommen. Er würde den Eltern des Jungen nie wieder unter die Augen treten können, falls das Unfassbare geschehen sollte. Elli sorgte sich nicht nur um Jakob, sondern auch ihren Mann, der sich vor Sorge um den Jungen zu wenig um seine eigene Genesung kümmerte. Er schlief kaum und lief voller Unruhe mehr herum als ihm guttat. Trotz seiner guten Konstitution entzündete sich die Wunde schließlich, und er bekam hohes Fieber, das den Ärzten große Sorgen bereitete. Elli fühlte sich verantwortlich für alles, was geschehen war. Hätte sie sich nur nie auf Kabus‘ Avancen eingelassen! Es wäre ihre Schuld, wenn… Sie konnte diesen unerträglichen Gedanken nicht zu Ende denken. Mit Hilfe Gerlachs gelang es ihr, die Ärzte erfolgreich zu beknien, Benthin ein Einzelzimmer zur Verfügung zu stellen und - entgegen aller Vorschriften - auch außerhalb der Besuchszeiten bei ihm bleiben zu dürfen. Immer wieder sah sie auch nach Jakob und erkundigte sich nach seinen Fortschritten. Elli wachte an Benthins Bett, hielt seine Hand und versuchte, ihn über Jakobs Zustand auf dem
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