Seine einzige Versuchung
sie in ihr Bett - das, was er an diesem Abend ohnehin endlich hatte tun wollen, allerdings unter anderen Voraussetzungen. Sie erschien ihm viel zu leicht. Vermutlich hatte sie wieder einmal zu wenig gegessen, versuchte er sich zu beruhigen. Doch ihr Zustand bereitete ihm Sorge - dies war keine einfache Ohnmacht oder Schwäche durch versäumte Mahlzeiten. So viel verstand er auch ohne tiefgreifende medizinische Fachkenntnisse. Ihm fiel ein, was Blöhm am Tag zuvor über die Grippeepidemie gesagt hatte und wie viele Menschen ihr schon zum Opfer gefallen waren. Er hatte nur mit halbem Ohr hingehört, weil er sich nicht angesprochen fühlte, und nun war er womöglich selbst mit der lebensbedrohlichen Erkrankung konfrontiert. Benthin war kaum noch in der Lage, klar zu denken. Er vermutete, Elli habe sich bei ihren Kontakten in der Suppenküche angesteckt und verfluchte sich für seine Toleranz, die ihn veranlasst hatte, sie unvoreingenommen ihrer Wege gehen zu lassen. Auch das Ärgernis Kabus wäre ihm mit etwas weniger Arglosigkeit erspart geblieben. Er war wütend auf sich, kein ständiges Personal im Haus eingestellt zu haben, das er nun nach einem Arzt hätte schicken können. In der Hoffnung, Paulsen möge vielleicht noch da sein, rannte er vors Haus. Doch der Kutscher war längst weg. Benthin hatte sich eben noch in freudiger Erregung über den bevorstehenden Abend mit Elli von ihm mit einer frotzelnden Bemerkung verabschiedet. Und dann war plötzlich die Frau erschienen, mit der er keinesfalls gesehen werden wollte. Doch nun war alles andere unwichtig. Er konnte Elli nicht länger alleine lassen. Krampfhaft versuchte er sich zu erinnern, wie ihn seine Mutter früher immer bei Fieber versorgt hatte und fühlte, wie sich seine Kehle zuschnürte bei dem Gedanken an sie und ihren frühen Tod. Benthin konnte die Vorstellung, Elli könne etwas zustoßen, nicht ertragen. Er eilte nach oben und hoffte, sie sei inzwischen wieder ansprechbar. Ihr Zustand war unverändert. Sie war noch immer nicht bei Bewusstsein. Ihr sonst so helles, zartes Gesicht war gerötet und von Schweißperlen bedeckt. Er musste ihre Kleidung lockern und ihr wenigstens Rock und Bluse ausziehen. Benthin wünschte, die Umstände, unter denen er dies täte, wären andere und war entsetzt, wie sich ihm derartige Gedanken in dieser Situation aufdrängen konnten. Er holte Wasser und Handtücher und tauchte sie in die Schüssel. Das Wasser war lauwarm und würde ihr hoffentlich Linderung verschaffen. Er schob ihren Unterrock hoch und zog ihr die Strümpfe aus, die ihre Knie und einen Teil des Oberschenkels bedeckten. Er konnte sich erinnern, dass Wadenwickel ein Mittel gegen hohes Fieber waren und versuchte - etwas unbeholfen - ihre Unterschenkel mit den feuchten Tüchern zu umwickeln. Um ein Durchnässen der Laken und der Matratze zu verhindern, schob er noch einige trockene Handtücher und eine Decke unter ihre umwickelten Beine. Mit einem weiteren feuchten Handtuch begann er, ihre Stirn und die erhitzten Wangen abzutupfen und murmelte dabei immer wieder:
„Bitte, komm doch wieder zu Dir. Gib mir ein Zeichen, dass Du mich hörst.“ Schließlich tauchte er das Handtuch erneut ins Wasser, wrang es gründlich aus und legte es zusammengefaltet auf ihre Stirn. Zwei weitere, kleinere Tücher tauchte er ebenfalls ein und wickelte sie zusätzlich um ihre Handgelenke. Ellis Fieber wütete in ihrem Körper. Benthin konnte nicht wissen, dass sie von Kindesbeinen an bei hohem Fieber zu Bewusstseinsstörungen neigte. Auch ihren Eltern hatte sie damals einen gehörigen Schrecken eingejagt, als sie zu ersten Mal in diesen Zustand verfiel. Im Laufe der Jahre hatten die Eltern gelernt, damit umzugehen. Der Hausarzt der Familie war der Ansicht, das Thema erledige sich ohnehin im Erwachsenenalter, wenn der Körper weniger anfällig wäre. Inzwischen lag ihre letzte fiebrige Erkrankung Jahre zurück und war längst in Vergessenheit geraten. Doch nun zeigte sich, dass ihr Körper auf hohes Fieber noch genauso reagierte wie in früheren Zeiten. Nach einer Weile des apathischen Liegens begann sie, sich im Delirium hin und her zu wälzen und unzusammenhängende Satzfetzen zu murmeln:
„Wer ist das… sie sind alle tot… die Frau… diese Frau… alles vergeblich… nein, das dürfen Sie nicht… am Freitag… wer ist das… diese Schmerzen… sei tapfer… heute Abend… alles nur ein Spiel… seine Frau… die Frau… der Brief…“ Im ersten Augenblick hatte Benthin
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