Seit du tot bist: Thriller (German Edition)
durchforsten, die unter dubiosen Umständen zur Welt gekommen sind. Es ist nicht viel, aber es ist ein Anfang. Etwas, auf dem man aufbauen kann.
Wenige Minuten später ist Lorcan da. Ich fühle mich erleichtert, in seinem warmen Audi zu sitzen und sein lächelndes Gesicht zu sehen. »Alles okay?«, fragt er.
»Nein.« Ich verziehe das Gesicht. »Aber ich will jetzt nicht darüber reden.«
Und das tun wir auch nicht. Während wir auf Lorcans Vorschlag hin Richtung Norden zu einem Restaurant in Finchley fahren, frage ich ihn genauer nach seinem Engagement in Cork. Er gesteht, dass es nur eine sehr kleine Rolle ist und dass er sich durch den Erfolg der Serie zu sehr eingeschnürt fühlt.
Als wir aus dem Wagen steigen, kommt heftiger Wind auf. Ich stütze mich auf Lorcans Arm. Wie schon zuvor habe ich das Gefühl, dass seine Gegenwart alles möglich macht. Ich werde Beth finden. Wir setzen uns an einen Tisch am Fenster, und plötzlich wird mir bewusst, dass ich den ganzen Tag über kaum etwas gegessen habe. Ich bestelle mir ein Steak.
»Erzähl mir von deinem Vater«, bittet mich Lorcan, während er uns Wein einschenkt.
»Er war Alkoholiker.« Ich streiche mit dem Finger am unteren Rand des Salzstreuers entlang. »Vor allem Wodka. Aber ein funktionierender, glücklicher Trinker. Zumindest habe ich ihn so erlebt.«
Ich halte inne und denke daran, wie Dad es immer wieder geschafft hat, meine langweilige Schwarz-Weiß-Welt aus Schulunterricht und Pfadfindertreffen in einen wunderbaren Farbfilm voller Möglichkeiten zu verwandeln.
»Einmal ist er abends nach der Schule einfach mit mir nach Stonehenge gefahren. ›Eine Abenteuerreise‹, hat er gesagt. So war er zu mir. Wir hatten immer Spaß.«
»Und trotzdem hat er sich das Leben genommen?«, fragt Lorcan.
»Nein.« Ich empfinde einen tief sitzenden Abscheu bei dem Gedanken. »Er hat sich nicht umgebracht. Er hat einfach nur zu viel getrunken.«
Lorcan runzelt die Stirn, und ich erinnere mich an meinen ersten Tag an der Uni. Mum hatte mich dort abgesetzt, und wie üblich hatten wir uns gestritten. Sie war weggefahren, und ich saß in meiner winzigen Studentenbude, starrte aus dem Fenster und beobachtete die anderen Väter, die ihre Töchter zum Abschied umarmten und ihnen ihre Koffer und Kisten in die Zimmer schleppten. Einen beängstigenden Moment lang war mir der Gedanke durch den Kopf geschossen, dass er uns um all diese normalen Erfahrungen betrogen hatte, indem er so viel trank, dass es ihn umbrachte. Mich um sie betrogen hatte. Nicht weil er glamourös und aufregend und wichtig war – wie ich so lange geglaubt hatte –, sondern schwach und traurig und krank.
So wie damals, als ich achtzehn war, verdränge ich die schmerzliche Erinnerung. »Es war immer toll mit meinem Vater. Wenn er da war, haben wir wunderbare Spiele gespielt. Fantasiespiele. Und er hat auf seiner Gitarre Lieder für mich erfunden.« Ich schließe die Augen, stelle mir meinen Vater vor, dem das schwarze Haar in die Stirn fällt, während er klimpert: »Dies ist dein Song, Queenie. Nur deiner.«
»Meine Mum hat mir Märchen erzählt«, sagt Lorcan leise. »Mein Lieblingsmärchen war ›Die Kinder von Lir‹. Kennst du es?«
Ich schüttle den Kopf.
»Es ist ein irisches Volksmärchen über einen König.« Er lächelt. »Der König hat vier Kinder und die Stiefmutter verwandelt sie in Schwäne, damit sie nicht mit ihm sprechen können. Sie sind jahrhundertelang von ihm getrennt.«
Ich starre aus dem Fenster auf die geschäftige Hauptstraße. »Wie kommt es, dass Märchen voll von bösen Stiefmüttern sind?«
Ist Beth gerade irgendwo bei einer anderen Mutter? Der Gedanke bringt mich schier um. Es ist unvorstellbar, dass mein Kind mich nicht kennt.
»Wir holen sie zurück, Gen.« Lorcan drückt mir die Hand. »Komm«, sagt er.
Wir verlassen das Restaurant. Als wir wieder in Lorcans Wagen einsteigen, fragt er, wohin er mich bringen soll.
Ich schlage Kaffee bei ihm zu Hause vor. Ich habe nicht vor, über Nacht zu bleiben, aber ich kann Art jetzt nicht gegenübertreten – und ich bin mir nicht sicher, ob ich Hen sehen will –, weiß aber, dass beide erwarten werden, dass ich irgendwann heute Abend bei ihnen auftauche.
Lorcan nickt und fährt los. Schon bald sind wir in Hampstead. Lorcan muss am hinteren Straßenende parken. Als wir die kalte Straße entlanggehen, sehe ich aus dem Augenwinkel heraus einen dunklen Mantel. Ich drehe mich um, doch da ist niemand. Ich starre den Baum auf
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