Seit jenem Tag
ob das eine Einladung ist. Ich stapfe die sich um die Eingangsdiele windende lange Treppe hinauf und steuere vom Treppenabsatz aus die einzig offene Tür an. Es ist wie eine Zeitreise – er sitzt in seinem Kinderzimmer auf seinem schmalen Bett, umgeben von Krickettrophäen. Unter dem Fenster steht ein schmaler Holzschreibtisch, ausgestattet mit einem Wörterbuch für die Hausaufgaben und einem Bücherregal voller Tim und Struppi -Bücher und ein paar vereinzelten Star Wars -Figuren. Er stiert sein iPhone an, lässt es aber sofort auf sein Bett fallen, als er mich eintreten sieht.
»Entschuldige«, sagt er leise, »ich wollte dich nicht allein lassen.«
»Ist schon gut«, erwidere ich verlegen. »Ich wollte nur …« Ich greife bereits nach dem Chip in meiner Tasche, doch beim Anblick seiner leeren Augen bekomme ich die Worte nicht über die Lippen. »… wissen, ob du eine Tasse Tee möchtest.«
»Ich sollte dir Tee kochen, Olivia«, sagt er und richtet sich auf, die englischste Art, sich zu entschuldigen. Ich nehme neben ihm Platz in der Hoffnung, ihn damit in der Gegenwart zu halten – ich möchte nicht, dass er wieder auf Autopilot umschaltet. Das Zimmer ist wie ein Schrein. Selbst wenn meine Eltern das Zuhause unserer Kindheit nicht verkauft hätten, weiß ich genau, dass meine Mum keine fünf Minuten gebraucht hätte, unsere Zimmer in eine nach Räucherstäbchen stinkende Meditationshöhle zu verwandeln.
»Bist du Schlagmann oder Werfer?«
»Schlagmann, aber mehr als ein Spiel im Jahr kriege ich derzeit nicht hin«, sagt er. »Das könnte sich jetzt allerdings ändern.«
» Tim und Struppi und nicht Asterix ?«
»Ich habe den Galliern nie über den Weg getraut«, erwidert er fast mit einem Lächeln. Wir verharren in Schweigen, das der gegen die Scheibe prasselnde Regen untermalt. »Erzähl mir von deinem Zimmer«, fordert er mich auf.
»Meinst du das von damals oder von heute?«
»Entweder oder. Oder beides.«
Ich schaue aus dem Fenster und denke angesichts der einbrechenden Dunkelheit an die vielen Kisten, die noch aussortiert werden müssen. Vielleicht erledigt er das ohnehin lieber allein, vielleicht hat meine Anwesenheit zu viele Wunden aufgerissen.
»Ich hatte jede Menge Bücher.«
»Das überrascht mich nicht.«
»Ja, aber das war nicht alles hohe Literatur! Unter meiner Matratze hielt ich Hollywood Wives von Jackie Collins versteckt, damit meine Mum es nicht entdeckte.« Ich sehe mich in dem winzigen Zimmer um. »Nun sag schon, wo sind deine Playboys ?«
Er geht durchs Zimmer und öffnet schwungvoll den Kleiderschrank.
»Oberste rechte Ecke unter den Rudersachen. Ich hoffe jedenfalls, dass sie da noch liegen.« Er sieht mein Gesicht. »Doch nicht deswegen! Der Sittsamkeit meiner Mutter zuliebe.«
»Ich wusste gar nicht, dass deine Mum mal Pin-up-Girl war.«
Er verdreht die Augen, und ich muss unwillkürlich kichern.
»Was sonst noch?«, fragt er, und das Bett bewegt sich, als er sich wieder neben mir niederlässt. »Nein, vergiss das. Wie war das?«
» Hollywood Wives? Ach, schrecklich für jemanden wie mich«, sage ich und verfluche mich gleich darauf, versehentlich über die Wahrheit gestolpert zu sein. Er schaut mich fragend an. »Du weißt schon, all diese absolut glatt enthaarten Dominas mit ihrer Schlafzimmerakrobatik.«
Plötzlich bin ich mir der Tatsache, dass wir uns auf einem Bett befinden, sehr bewusst, obwohl mit hundertprozentiger Garantie keine von Jackie Collins’ Heldinnen sich dazu herabgelassen hätte, auf diesem beigen Chenille-Bettüberwurf zu zeigen, was sie draufhat.
»Verstehe. Klingt sehr kompliziert.« Wir lächeln einander wieder an, und das Schweigen liegt plötzlich sanft auf uns. »Ich muss dich schon bald zu deinem Zug bringen.«
»Ich weiß, tut mir leid. Ich habe das Gefühl, noch kaum was geschafft zu haben.« Dabei spüre ich den harten Plastikchip an meinem Schenkel. Dieser Frieden ist zu fragil und hart erkämpft, um ihn gleich wieder mit der Axt zu bedrohen.
»Ganz und gar nicht«, erwidert er aufrichtig, und ich merke, dass ich unterwegs gelernt habe, zwischen seinen bedeutungslosen Reflexen und den Momenten zu unterscheiden, in denen seine wahren Gefühle durchbrechen. »Ich kümmere mich jetzt um einen Tee für dich.«
»Und dann können wir noch was erledigen … wenn es dir hilft.«
»Du bist sehr freundlich«, sagt er und richtet seine weichen dunklen Augen auf mich. Das ist die Genugtuung, die ich brauche.
Einen weiteren ekelhaften
Weitere Kostenlose Bücher