SEK – ein Insiderbericht
wo es essenziell darauf ankommt, so schnell wie möglich an den Täter heranzukommen, damit er keine Möglichkeit mehr hat, die Geisel zu verletzen oder gar zu töten.
In unserem jetzigen Fall ist Schnelligkeit allerdings nicht vonnöten, da es nur um eine einzige Person in dem Haus geht, die festgenommen werden soll. In diesem Fall, das hat Jack ja bereits festgelegt, werden wir nach Öffnen der Tür langsam und unter größtmöglicher gegenseitiger Sicherung in das Haus eindringen, um unnötige Risiken für uns zu vermeiden.
Jack schaut auf die Reihe der angetretenen SEK-Beamten und bestimmt: »Winni, Ulf, ihr geht als Erste rein, Willy und Peter, ihr seid das zwote Team, der Rest dahinter …«
Im Gegensatz zu vielen anderen Einheiten praktizieren wir in unserem Kommando beim gewaltsamen Eindringen in Räumlichkeiten nicht das Prinzip der genauen Vorplanung, legen also nicht fest, welches Team welchen Bereich des Gebäudes abarbeitet. Aus der Erfahrung vieler Einsätze wissen wir, dass die schönste Vorplanung durch vielerlei Umstände komplett über den Haufen geworfen werden kann. Wenn beispielsweise ein für die ersten Räumlichkeiten eingeteilter Kollege durch einen unglücklichen Zufall ausfiele (und sei es nur, weil er stolperte und zu Fall käme) und sich alle weiteren Kollegen strikt an ihren Plan hielten, so käme es in dem besagten Raum zu der unschönen Situation, dass dort genau dieser Mann fehlt. Daher praktizieren wir seit Ende der 80er Jahre ein System, welches wir von der SWAT-Einheit aus Los Angeles übernommen haben. Das System basiert auf Zwei-Mann-Teams, wobei der zweite Mann sich in seinem taktischen Verhalten grundsätzlich an der Entscheidung des vor ihm laufenden Teamkollegen ausrichtet und diese ergänzt. Der erste Mann kann sich also frei entscheiden, welche Richtung er einschlägt, ob er sich nach links oder rechts wendet, und der ihm folgende Kollege übernimmt dann automatisch die andere Richtung. Somit ist ohne zusätzliche Absprachen immer gewährleistet, dass alle Richtungen in einem Zielobjekt abgedeckt werden, weil sich jeder von uns an der taktischen Marschroute seines Vordermannes orientiert und die auftretenden Lücken schließt.
Dieses System zeichnet sich aufgrund seiner Flexibilität durch eine hohe Fehlerredundanz aus, da auftretende individuelle Fehler, die in einer dynamischen Einsatzsituation, wie etwa einer Geiselbefreiung, immer vorkommen können, unmittelbar durch den nachfolgenden Beamten korrigiert werden können. In Deutschland war meine Einheit aufgrund guter persönlicher Kontakte zu der SWAT-Einheit in Los Angeles einer der Vorreiter für dieses neue taktische System. Heutzutage ist es der Grundstock für das taktische Vorgehen der meisten Spezialeinheiten auf der Welt.
Jack schaut noch einmal in die Runde und sagt: »Denkt dran, Jungs, langsamer Durchgang, ich möchte kein unnötiges Risiko.«
Wir haben es ja »nur« mit einem bewaffneten Tatverdächtigen zu tun, da müssen wir ganz anders vorgehen als etwa bei einer Geiselbefreiung, bei der einem hohen Bewegungstempo der eingesetzten SEK-Kräfte eine große Bedeutung zukommt. Nur durch ein forciertes Vorgehen können die Geiselnehmer so unter Druck gesetzt werden, dass sie im Idealfall keine Möglichkeit mehr haben, sich gegen ihre Geiseln zu wenden. Ein hohes Tempo bedeutet aber auch immer eine erhöhte Eigengefährdung, da wir dann zum Beispiel vorhandene Deckungsmöglichkeiten nur sehr eingeschränkt nutzen können und die Wahrscheinlichkeit steigt, dass wir vorhandene Gefahren nicht mehr rechtzeitig wahrnehmen.
Jetzt hingegen geht es um ein langsames und kontrolliertes Vorgehen unseres Teams, nachdem die Haustür gewaltsam geöffnet wurde.
Wir nähern uns der fensterlosen Seite unseres Zielobjekts vom Nachbargrundstück aus an, kommen ungesehen und ohne Vorkommnisse bis zur Haustür und bauen uns daneben in einer langen Reihe hintereinander auf. Die Haustür besteht aus Aluminium, hat in der Mitte eine Querverstrebung mit einem Briefkastenschlitz und ober- und unterhalb der Querstrebe Drahtglaseinsätze. Vorne steht Marry mit der Ramme, bereit, auf Jacks Signal hin vorzutreten und die Haustür gewaltsam aufzubrechen. Dies ist eine gefährliche, exponierte Position für ihn, da er sich in diesem Moment direkt vor der geschlossenen Tür befinden wird und damit im möglichen Schussbereich des Hauseigentümers, falls der auf die Idee kommen sollte, durch die geschlossene Tür zu feuern. 5
Über Funk
Weitere Kostenlose Bücher