Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
Komm zu uns.« Das war das Signal. Nun denn, auf ins kalte Wasser!, dachte ich mir.
In Hamburg ist eine Justizsenatorin bereits dann relativ erfolgreich, wenn sie nicht ununterbrochen Ärger mit dem Strafvollzug hat. In Berlin ist das anders. Auch dort ist der Strafvollzug kein einfaches Thema, aber er ist kein Dauerproblem. In meiner Erinnerung überwiegen deshalb die rechtspolitischen Themen, denen ich mich in Berlin widmete. Und da ich nach den Berliner Wahlen im Herbst 1995 erneut zur Senatorin für Justiz gewählt wurde, konnte ich eine ganze Menge bewirken.
Eine politisch brisante Aufgabe in Berlin bestand darin, die sogenannte Regierungskriminalität der ehemaligen DDR strafrechtlich aufzuarbeiten. Meine Vorgängerin, Frau Professor Limbach, hatte dieses Problem bereits angepackt und dafür gesorgt, dass eine eigene Institution dafür geschaffen wurde, die spätere Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin. Diese Staatsanwaltschaft hatte die Aufgabe, sogenanntes Systemunrecht wie Todesschüsse an der Mauer, Rechtsbeugung oder die Bestrafung von DDR-Bürgern, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten, zu verfolgen. Darüber hinaus war diese Staatsanwaltschaft zuständig für die Verfolgung der Regierungskriminalität, also des rechtswidrigen Handelns von Regierungsmitgliedern wie zum Beispiel Erich Honecker, Erich Mielke und Egon Krenz. Berlin fielen diese Aufgaben zu, weil die DDR-Regierung ihren Sitz in Ost-Berlin gehabt hatte. Von ihr waren die entsprechenden Gesetze, Befehle und Anordnungen erlassen worden. Berlin war also Tatort.
Diese überragend wichtige politische Aufgabe konnte das Bundesland Berlin schon personell allein nicht bewältigen. Die Landesjustizminister beschlossen daher die Abordnung von Staatsanwälten und Richtern aus der ganzen Bundesrepublik an die Staatsanwaltschaft II in Berlin, damit diese dort die große Zahl von Ermittlungsverfahren führen und, wenn nötig, zur Anklage bringen konnten oder aber einstellen mussten.
Meine Aufgabe bestand nicht nur darin, durch unermüdliches Werben für ausreichend Personal zu sorgen, sondern auch die Staatsanwaltschaft II in ihrem Bemühen um zutreffende rechtliche Einordnung der strafrechtlichen Sachverhalte nach Kräften zu unterstützen und sie gegen vielfältige Anfeindungen zu schützen und zu verteidigen. Diese Aufgaben waren für mich neu, sie waren überaus brisant, medienrelevant und heikel, aber zeitpolitisch auch ungemein interessant, faszinierend und verantwortungsreich.
Der 20. Juli, der Tag des Widerstands: An jenem Datum im Jahr 1944 hatte Claus Schenk Graf von Stauffenberg zusammen mit einer großen Gruppe von Widerstandskämpfern ein Attentat auf Adolf Hitler verübt. Zum Gedenken legte ich im Namen des Berliner Senats zwei Kränze nieder. Zuerst einen Kranz am Bendlerblock, wo Stauffenberg und andere Attentäter am Abend des 20. Juli erschossen worden waren. Dann in der Gedenkstätte Plötzensee, dem Ort der Hinrichtungen weiterer beteiligter Widerstandskämpfer. Nach der Kranzniederlegung trat Klaus von Dohnanyi auf mich zu, Hamburgs ehemaliger, langjähriger Erster Bürgermeister. Er berichtete mir, dass das Urteil gegen seinen Vater noch immer in der Welt war. Der bekannte Widerstandskämpfer Hans von Dohnanyi war im KZ Sachsenhausen gehängt worden. »Warum beantragst du nicht die Aufhebung des Urteils?«, fragte ich Klaus von Dohnanyi. Seine Erklärung leuchtete mir ein: Der Staat habe die Pflicht, das Unrechtsurteil aufzuheben, ohne dass der Sohn tätig werde.
Ich recherchierte und fand heraus, dass zwischen 200 000 und 400 000 Urteile des Volksgerichtshofs und des Reichskriegsgerichts noch in Kraft waren. Die Urkunden lagerten auf Dachböden der Berliner Justiz. In der Folge wandte ich mich an den Bundeskanzler, den Bundespräsidenten und die Vorsitzenden aller Bundestagsfraktionen. Ich schrieb ihnen Briefe mit der Bitte, endlich ein Gesetz zu schaffen, das Unrechtsurteile gegen Widerstandskämpfer aufhebe. Die Antworten? Ich erhielt keine einzige. Daraufhin besprach ich mich mit Mitarbeitern meiner Behörde, erklärte ihnen mein Anliegen und sagte: »Die Bundesrepublik Deutschland ist Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches – insofern liegt die Zuständigkeit für die Urteilsaufhebung beim Bundestag. Da er sich nicht regt, muss das Land Berlin aktiv werden. Lassen Sie uns die Sache anpacken und in den Bundesrat einbringen. Ich bitte um Vorschläge: Wie können wir verfahren?«
Die Reaktionen meiner Beamten
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