Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
beklagten auch meine sich: »Nie bist du zu Hause!« Das waren schlimme Momente, mein schlechtes Gewissen verschlechterte sich weiter. »Meine Arbeit ist unsere Lebensgrundlage«, erklärte ich den Kindern. »Das mögt ihr gut oder schlecht finden, aber ohne das Geld, das ich verdiene, könnten wir nicht so leben, wie wir es tun. Es gibt keine Alternative.«
Selbst kleine Kinder können solche Erklärungen schon verstehen und akzeptieren. Dann fühlen sie sich gegenüber anderen Kindern, deren Eltern mehr Zeit für die Familie haben, nicht mehr zurückgesetzt. Meine jüngste Tochter Andrea brachte es auf den Punkt: »Mama, du bist hier für alles zuständig und trägst hier für alles allein die Verantwortung.« Ein solcher Mensch hat nicht unendlich Zeit zum Spielen, zum Toben, zum Helfen bei den Hausaufgaben, zum Ausflüge-Machen, für Reiterhof-Besuche und Kindergeburtstagsfeiern.
Es geschah an einem frühen Morgen. Andrea war damals noch klein, drei Jahre vielleicht. Sie stolperte, fiel hin und prallte mit dem Kopf gegen einen Heizkörper. Aus einer klaffenden Wunde pulsierte das Blut heraus. Dass die Wunde genäht werden musste, war offensichtlich.
Ich hatte einen wichtigen Termin, eine Senatssitzung am OLG. Es war eine Phase, in der mir manche Kollegen nicht wohlgesonnen waren und gegen mich intrigierten. Normalerweise hätte ich anrufen und absagen können, es gab selbstverständlich Vertretungsrichter. Aber unter den damaligen Umständen war daran nicht zu denken. Ich rief den Kinderarzt an: »Wie lange darf ein Loch im Kopf unversorgt bleiben?« – »Höchstens drei Stunden.« – »Und was tue ich gegen die Blutung?« Er beschrieb mir Maßnahmen zur Blutstillung. Die Kinderpflegerin wollte ich nicht allein mit Andrea zum Arzt schicken. Ich war und bin der Ansicht, dass es Sache der Mutter ist, dabei zu sein, das Kind zu halten und zu trösten, wenn eine Wunde genäht wird. Ich raste ins Gericht, kam gerade eben pünktlich zur Senatssitzung, brachte sie gedankenverloren hinter mich, raste zurück nach Hause und fuhr mit Andrea zum Arzt.
Das war das erste Mal, dass mein Beruf akut unter der Familie litt und umgekehrt. Es gab noch ein zweites Mal, an das ich mich aber nicht im Einzelnen erinnere. Das erste Mal hat mir so sehr zugesetzt, dass es die andere Erinnerung überdeckt. Ansonsten habe ich meine Arbeit am Gericht nie aus familiären Gründen vernachlässigt. Ich bin ein gewissenhafter Mensch und habe mein Pensum geschafft. Im Jahr 1984 wurde ich zur Senatspräsidentin, also zur Vorsitzenden Richterin am Hanseatischen Oberlandesgericht, befördert. Dazu wäre es nicht gekommen, wenn ich nachlässig gearbeitet hätte.
Bezahlt habe ich den Erfolg mit Freizeit. In den Jahren als alleinerziehende Mutter und Richterin hatte ich kaum eine freie Minute. Mich einfach mal hinsetzen und ein Buch lesen? Undenkbar. Mit Freunden essen gehen ganz in Ruhe? Nie. Auch mittags am Gericht ging ich nicht in die Kantine, dafür fehlte mir die Zeit. Von zu Hause brachte ich mir immer eine Scheibe Brot oder eine andere Kleinigkeit mit, die aß ich am Schreibtisch, während ich weiterarbeitete. Wenn meine Kollegen zum Essen gingen, sagte ich: »Grüßen Sie mir die Kantine!« Die halbe oder ganze Stunde, die ein Kantinenessen kostet, hätte ich hinten an meinen Arbeitstag dranhängen müssen. Das kam nicht in Frage, ich wollte so früh wie möglich bei den Kindern sein. Später lernte ich viele berufstätige Mütter kennen, die es genauso machten. Bis heute mache ich keine Mittagspausen. Über die Jahre und Jahrzehnte hat es sich bei mir so eingeschliffen: Ich unterbreche meine Arbeit tagsüber nicht, arbeite konzentriert an einem Stück von morgens bis abends. Essen gehe ich mittags nur, wenn es ein Arbeitsessen ist.
Gab es Arbeit, die ich in der Woche nicht erledigt hatte, kümmerte ich mich an den Wochenenden darum, an denen die Kinder bei ihrem Vater waren. Manchmal fuhren sie mit dem Vater zusammen in den Urlaub. Auch das waren Zeiten, in denen ich zu Hause Dinge aufarbeiten konnte, die beim Gericht liegengeblieben waren und für die es keine festen Termine gab.
In jenen freizeitfreien Jahren habe ich Taktiken und Sinnsprüche entwickelt, die primitiv klingen, aber weiterhelfen. Zum Beispiel: Fasse keine Sache zweimal an! Daran halte ich mich bis heute. Eine Aufgabe, die sich mir jetzt stellt und die ich jetzt erledigen kann, wird sofort erledigt. Und wenn sie mir noch so langweilig erscheint, wenn ich noch so
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