Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
Sonderfall, wenn nicht als Problemfall zu gelten. »Drei Kinder, wie ist das möglich?«, tuschelten manche Leute hinter vorgehaltener Hand. Als Andrea zur Welt kam, fragte mich eine Krankenschwester mitleidig: »Musste das sein?« Ich galt als »Sozialmutter«, wie man damals sagte. Damit meinte man Mütter, die mit einem gewissen Lebens-standard nicht mithalten konnten – Mütter, die auf Sozialhilfeniveau lebten.
Heute sind die Rahmenbedingungen für Eltern und Kinder in vielerlei Hinsicht besser. Es gibt die Elternzeit und den gesetzlichen Anspruch auf Teilzeit nicht nur für Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst, sondern auch in der Wirtschaft. Es gibt Elterngeld, es gibt bedeutend mehr Kindergeld als früher, sodass man sich öfter einen Babysitter leisten kann. Es gibt Ganztagsschulen und allgemein viel mehr Betreuungsangebote für Kinder. Gerade heute ist es wichtig, dass die Erziehung teilweise außerhalb der Familie stattfindet. Kinder haben einen Anspruch darauf, mit anderen Kindern zusammen zu sein. Sie müssen Freunde finden können, müssen einen selbstverständlichen Umgang mit Altersgenossen erlernen – das kann sehr gut in Kindergärten und ähnlichen Einrichtungen stattfinden.
Wohnhäuser, in denen zwanzig oder mehr Kinder leben wie in den fünfziger und sechziger Jahren, gibt es nicht mehr. Es gibt auch nicht mehr die Straßen und Hinterhöfe, auf denen die Nachbarskinder in Scharen zusammen spielen. Den Raum dafür bietet heute die Kita. Dort finden Kinder auch den Ersatz für fehlende ältere oder jüngere Geschwister. Sie haben Umgang mit Kindern, die schon mehr können als sie und ihnen als Vorbild dienen. Und sie erleben kleinere Kinder, die ihre Hilfe brauchen und für die sie Vorbild sind.
Beklagt sich heute eine junge Frau, sie halte der Doppelbelastung durch Familie und Beruf nicht stand, dann fällt es mir schwer, dies zu akzeptieren. Ein Grund für das Gefühl der Überforderung, so vermute ich, ist vielleicht die immer noch in weiten Teilen der Bevölkerung verbreitete Überzeugung, eine Familie habe nach dem alten Muster zu funktionieren: Der Mann beschafft das Geld, die Frau kümmert sich um die Kinder. Ganz so, wie auch in der bereits erwähnten Studie des Deutschen Jugendinstitutes beschrieben, laut der weit über neunzig Prozent aller jungen Männer in Deutschland es als Hauptaufgabe des Vaters ansehen, den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen. Das Familienbild der jungen Männer ist nicht von der Idee der Gleichberechtigung bestimmt, sondern von fragwürdigen patriarchalischen Traditionen. In solch einem Umfeld stehen berufstätige Mütter nach wie vor unter Druck.
Im Jahr 2010 wurde unter dem Titel »Deutschlands Chefinnen« eine Studie veröffentlicht. Jene 49 Frauen, die es in die Führungsebene der 500 größten deutschen Unternehmen geschafft hatten (und die damit 2,4 Prozent an allen Vorständen und Geschäftsführern ausmachten), wurden darin gebeten, Handlungsempfehlungen für weibliche Führungskräfte auszusprechen. Keine einzige der 32 Studienteilnehmerinnen bezeichnete Mutterschutzzeiten, Probleme bei der Kinderbetreuung oder unflexible Arbeitszeiten als Karrierehemmnis. 81 Prozent leben in einer festen Partnerschaft, immerhin 44 Prozent haben Kinder. Das Problem, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren, sei zwar vorhanden, sagten sie, durch intelligente Organisation jedoch beherrschbar. Wer Karriere macht, habe zudem oft die finanziellen Möglichkeiten, sich qualitativ hochwertige Kinderbetreuung zu beschaffen.
Diese Aussagen zeigen, dass selbstbewusste Frauen sich nicht um Rabenmuttervorwürfe scheren, mit denen auch sie gewiss direkt oder indirekt konfrontiert werden. An diesem Selbstbewusstsein sollten sich Frauen, die beruflich weiter unten in der Hierarchie agieren, ein Beispiel nehmen. Außerdem ist zu hoffen, dass sich mit zunehmendem Anteil an einflussreichen Frauen und insbesondere an Müttern in den Unternehmen allgemein ein anderes Bewusstsein zum Thema Beruf und Familie bildet, auch bei Männern.
Gelegentlich habe ich den Verdacht, dass vereinzelte Frauen die vermeintlich schlechten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als Alibi nutzen. »In meinem Beruf kann man einfach keine Kinder haben. Unmöglich, beides unter einen Hut zu bringen, ohne dass die Erziehung des Kindes oder meine Karriere leidet.« So und ähnlich lauten die Argumente. Und: Es sei endlich an der Zeit, dass Arbeitgeber und Staat gute Vereinbarkeitsmodelle
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