Selig in Kleinöd: Kriminalroman (German Edition)
Inzest stattgefunden hat.«
»Verlassen Sie sich eigentlich nur auf die Kirchenbücher und die Unterlagen vom Standesamt?«, wollte Bernhard wissen.
Günther beugte sich vertraulich vor. »Natürlich nicht! Das wirklich Interessante sind die geheimen Aufzeichnungen der Hebammen. Irgendwie verleiten sie die ledigen Mütter in ihrer schwersten Stunde dazu, den Namen des Kindsvaters preiszugeben, indem sie zwischen den Wehen die besorgte Frage aufwerfen: ›Falls dir was passiert, an wen kann ich mich wenden, wer sollte informiert werden?‹ Ist doch klar, dass eine Gebärende dann unter Schmerzen den Namen des Vaters herauspresst und der Geburtshelferin das heilige Versprechen abringt, ihn hinterher bitte sofort wieder zu vergessen. Wissen Sie, als Bibliothekar werde ich immer wieder zu Haushaltsauflösungen gerufen, und in solchen Fällen habe ich alle Bücher erst einmal mitgenommen. Man weiß ja nie. In einigen waren Geldscheine versteckt, in anderen schmachtende Liebesbriefe oder peinlich-kitschige Gedichte, und zwischen all diesen Werken fand ich dann auch die Notizbücher der Hebammen. Was meinen Sie, wie viel Mühe mich das gekostet hat, die zu entziffern.« Er seufzte. »So bin ich erst auf mein Projekt gekommen.«
Günther lächelte Gertraud zu, die zu Tisch bat, beugte sich über Eulalia-Sophie und fragte: »Und du, meine Süße, wann wirst du in meinem Gläsernen Vilstal stehen?«
»Bald«, antwortete Gertraud stellvertretend für ihre Tochter und fügte hinzu: »Sie ist übrigens in Landau zur Welt gekommen. Und in Landau haben wir auch eine eigene Wohnung, die Eulalia und ich. Aber weißt, nun, da ich noch in Elternzeit bin, da wohnen wir doch lieber bei der Tante auf dem Lande.«
Endlich. Nun war das Unwort gefallen. Elternzeit statt Sabbatical. Günther nahm es gelassen, ließ sich von Charlotte Knödel und eine Gänsekeule auf den Teller laden und griff hungrig nach dem Rotkraut.
Gertraud beschloss an diesem Heiligen Abend, dass Dr. Günther Hellmann Eulalias Vater werden solle. In der Schule würde man die Kleine um ihren studierten Vater beneiden, und allein wegen Günthers Titel würden die Lehrerinnen der kleinen Eulalia eine hohe Intelligenz unterstellen und sie in dem Maße fördern, wie es ihr gebührte. Dass Eulalia ihre Existenz dem Achsenbruch eines Lastwagens und dem daran anschließenden One-Night-Stand ihrer Mutter mit einem angetrunkenen Trucker verdankte, ging wirklich niemanden was an. Gertraud selbst hatte es schon fast vergessen und ihrer Hebamme gegenüber hartnäckig geschwiegen, als diese nach engen und bisher verschwiegenen Angehörigen fragte, die im Falle eines Falles zu benachrichtigen seien. Ins Kleinöder Geburtenregister hatte sie in der Rubrik leiblicher Vater den Begriff »In-vitro-Fertilisation« eintragen lassen, ein Wort, das sie für Olga Oblomov extra buchstabieren musste.
Das junge Glück sollte nicht einmal neun Monate dauern. Am Samstag, dem 5. September, gegen neunzehn Uhr, wurde Dr. Günther Hellmann direkt neben seinem auberginefarbenen Honda hinterrücks von einer Kugel durchbohrt. Die Beifahrertür stand noch offen, er hatte sich ins Auto gebeugt, um einen Stapel Kinderbücher für Eulalia-Sophie herauszunehmen.
Nun lag Günther rücklings in der Einfahrt des Döhringschen Anwesens und starrte so lange mit großen und erstaunten Augen in einen sich verdunkelnden Himmel, bis sein Blick brach.
Gertraud hatte den Knall gehört und augenblicklich gewusst, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Ihr war eiskalt geworden, und ihr Herz hatte ein, zwei Schläge ausgesetzt. Der Schrei, den sie eigentlich ausstoßen wollte, war ihr in der Kehle stecken geblieben.
Sie hatte augenblicklich gewusst, dass von nun an nichts mehr so sein würde wie es war. Alles hatte sich verändert. Alles.
Kapitel 7
Franziska Hausmann ließ Wasser in die große Wanne laufen und fügte nachdenklich einen Badezusatz mit der Aufschrift »Entspannung für Leib und Seele« hinzu. Sie hoffte, dass die ätherischen Öle möglichst rasch ihre Wirkung entfalteten. Entspannung war bitter nötig.
Dabei hatte der Tag so ungetrübt begonnen. Weil es Samstag war, hatten sie und ihr Mann ausgeschlafen, lange und ausgiebig gefrühstückt und dann einen Bummel über den Wochenmarkt gemacht. Hinterher hatten sie auf einer Bank gesessen und sich von der kräftigen Sonne wärmen lassen, und Christian hatte sich geduldig und mit detaillierten Zwischenfragen alle Vermutungen seiner
Weitere Kostenlose Bücher