Sex and Crime auf Königsthronen
kirchenähnliche Great Hall – also einen Festsaal – mit vergoldeter Stichbalkendecke, mehrere Gebäudeflügel und Innenhöfe hinzufügt. Herz- und Meisterstück des Schlosses ist noch heute der Küchentrakt. Eine Art Lebensmittelfabrik aus Dutzenden Räumen und Korridoren mit Eishäusern, Metzgereien und Kräuterkammern. Genug Platz für 230 Köche, Zuckerbäcker, Fischdünster, Bratspießdreher und des Königs Puddingköchin als einzige weibliche Angestellte. Wie? So wenige Frauen am Herd?
Ja, denn weibliche Arbeitskräfte sind billiger Schnickschnack. Der König kann sich ausschließlich männliches Kochpersonal leisten.
Durch eine schlichte Holztür kann man noch heute mit einem Schritt nach vorn ein halbes Jahrtausend zurück in Heinrichs Traumküche eintauchen, in der für 1000 hungrige Mäuler gekocht wurde. Männer in Wollmützen, Wämsern, hautengen Hosen und keck vorspringenden Schamkapseln, die das Gemächt mehr ent- als verhüllen, empfangen die modernen Besucher. Es sind staatlich angestellte Speisearchäologen, die in den Gewölbeküchen Heinrichs Herde anfeuern und nach Herzenslust brutzeln und backen. Ein Besuch in der illustren Küche sei jedem Englandbesucher wärmstens empfohlen!
Zurück nach Beaulieu, dem ersten Schloss, das Heinrich 1516 bauen lässt. Dort bringt er einen großzügigen Kindertrakt unter, samt Windelwäscherei, Breiküche, Bad, Wiegenschauklerinnen- und Ammenkammern, und über dem Torgehäuse bringt er ein riesiges Wappen an. Es ist mit Löwen, Tudor-Rosen und mit Katharinas Granatäpfeln verziert. Neu ist: Den Schalen der spanischen Früchte entspringen aus Schlitzen winzige Samenkerne mit herzigen Tudorröschen. Hurra! Endlich, endlich hat sich im Februar 1516 bei den Tudors Nachwuchs eingestellt.
Leider nur ein Mädchen. Mary, die später als Bloody Mary in die Königs- und die Cocktailgeschichte eingehen wird. Katharina darf dennoch aufatmen. Heinrich, in Gönnerlaune, verkündet so laut, dass Spaniens Botschafter es mitbekommt und weitertratschen kann: »Diesmal ist es ein Mädchen. Wir sind jung, es werden Jungen folgen.«
Man darf gespannt sein. Und das sogar doppelt. Im Frühjahr 1518 werden Bessie Blount und Katharina beinahe zeitgleich schwanger.
Der werdende Zweifach-Papa Heinrich VIII. hat sich sicher gefreut, ist aber ab Herbst 1518 mit einem wichtigen Politpoker befasst. Wolsey hat dem begeisterten Bauherrn und gescheiterten Kriegshelden eine neue Rolle als Trumpfkönig auf den Leib geschneidert. Heinrich soll als Friedensarchitekt auf die europäische Machtbühne zurückkehren. Seine wichtigste Waffe ist: ein Fest, was sonst?
Europas erster Friedensengel
London im Oktober 1518. Die City bereitet sich auf ein Gipfeltreffen der führenden europäischen Fürsten vor. Vergoldete Triumphbögen werden in den Gassen hochgezimmert, auf Straßenbühnen studieren Chorknaben mit Amorflügeln und Schauspieler in antiker Göttertracht typische Renaissancespektakel ein. In die Brunnen wird wieder einmal Wein gepumpt, einige Kreuzungen werden mit Teppichen ausgelegt, der Turnierplatz von Westminster wird mit internationalen Wappenschildern, Fahnen und samtverhangenen Tribünen versehen.
Erwartet werden Frankreichs Franz, Herzöge aus Burgund und aus den Niederlanden, ein hoher Stellvertreter des Papstes und der neue König von Spanien. Das ist der bis dato als farblos bewertete Karl von Gent (1500–1558). Der achtzehnjährige Blassschnabel mit dem ausladenden Kinn ist von Geburt ein halber Habsburger und ein halber Spanier, seine Muttersprache ist Niederländisch, weil er dort aufgewachsen ist. 1516 hat dieser Karl seinen Großvater Ferdinand von Aragon beerbt, jetzt ist er zudem als Vertreter seines todkranken zweiten Opas, Kaiser Maximilian, geladen.
Nach ausführlichen Tafel-, Tanz- und Turnierfreuden wird zwischen allen Gästen ein europäischer Universalfrieden besiegelt. Politischer Vorwand ist die Türkengefahr. Die Osmanen rasseln unter Führung von Sultan Süleyman I. bedenklich mit ihren Krummsäbeln.
Das Gipfeltreffen von London kann dagegen wenig ausrichten, der gesamteuropäische Frieden ist das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben wurde, und heute längst in Vergessenheit geraten. Trotzdem darf man Heinrich und Wolsey auch als erste Architekten eines Vereinigten Europa bezeichnen. Leider kommen ihre Bemühungen mehr als 500 Jahre und diverse Kriege und Weltkriege zu früh.
Beide haben 1518 außerdem weniger Europas Zukunft als vielmehr ihre
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