Sex oder Lüge
seltsam. Wie üblich bin ich zum Ende meines Gigs ins Publikum gegangen, und da saß er. Ganz allein. Der einzige Mensch im Club, der allein an seinem Tisch saß. Es kommt sowieso selten vor, dass einer der Gäste Single ist.“
„Und deswegen hast du ihn geküsst? Weil er allein war?“
Es klang in diesem Moment tatsächlich etwas albern. „Glaub mir, ich habe bereits versucht, einen anderen Grund zu finden.“
„Und? Keine bessere Ausrede gefunden, ja?“ Patrice nahm einen von Mirandas Lippenstiften, öffnete ihn und zog beim Anblick des Farbtons die Brauen zusammen. „Was meinst du?“
„Steht dir bestimmt“, stellte Miranda fest und seufzte. „Aber nein, du hast recht: keine andere Ausrede gefunden.“ Sie sah zu, wie ihre Freundin sich dichter zum Spiegel beugte und das dunkle Korallenrot auf ihre Lippen auftrug. „Ein einsamer Mann darf mich nicht dazu verführen, das Leben, das ich mir hier aufgebaut habe, aufs Spiel zu setzen.“
„Wer sagt das? Einen besseren Grund als einen einsamen Mann gibt es überhaupt nicht. Außerdem bleibt er gar nicht lange genug, um dein Leben aus den Fugen geraten zu lassen.“ Patrice spitzte die Lippen und betrachtete sich prüfend. „Ich frage mich, ob Alan das gefällt.“
Miranda, die wusste, dass Patrice sich nur selten schminkte, musterte ihre Freundin nachdenklich. „Vielleicht solltest du zum Ausgleich deine Augen noch ein bisschen betonen.“
„Findest du mich unausgeglichen?“ Stirnrunzelnd sah Patrice sich im Spiegel an.
Miranda lachte amüsiert. „Nur dein Gesicht.“
„Danke. Ein Glück.“ Patrice schnappte sich eines von Mirandas Stirnbändern und schob sich die Haare aus dem Gesicht. „Aber ich meine es wirklich ernst.“
„Was? Das mit dem Risiko?“
„Natürlich. Du bist jetzt seit fünf Jahren hier, und du hattest noch kein einziges Date. Kein Mensch spricht mehr von deiner Scheidung. Was wäre schlimm daran, wenn jemand, der dich von früher kennt, herausbekommt, dass du hier lebst? Wenn irgendetwas dein Leben ruiniert, dann ist es deine eigene übertriebene Vorsicht.“ Vielsagend sah sie Miranda in die Augen. „Ich meine, fünf Jahre ohne Sex? Wie hältst du das aus?“
Miranda ertrug es, weil es hier keine Männer für ein Date gab und weil sie zu beschäftigt war, um sich jemanden zu suchen. Zugegeben, sie übertrieb es wahrscheinlich mit der Geheimhaltung ihrer Vergangenheit. Anfangs war es ein notwendiges Übel gewesen, und dann war es ihr zur Gewohnheit geworden. Jetzt empfand sie es oft wie ein Gleis, von dem sie nicht mehr abbiegen konnte. Zumal jetzt die Berufungsverhandlung anstand.
Im Nachhinein sagte es sich leicht, dass sie das Ganze vielleicht auch weniger emotional und etwas logischer hätte abwickeln können. Aber jetzt lebte sie hier, und im Grunde war ihr Leben gar nicht so schlimm. Falls doch, dann hatte sie sich bis jetzt ausgezeichnet selbst belogen. Sie wandte sich wieder an Patrice.
„Gerade jetzt wird wieder überall über Marshall berichtet. Wenn bekannt würde, dass die Ex-Mrs. Gordon in einem Liebesnest in den Rocky Mountains lebt, würden die Reporter sich gegenseitig über den Haufen rennen, um Flüge hierher zu buchen.“
„Aber was hat das damit zu tun, ob du dich hier auf eine Affäre einlässt?“
„Der Mann, mit dem ich eine Affäre habe, soll nicht von hier abreisen, in den Medien die Fotos von damals sehen und sich an die Presse wenden: Hey, ich weiß, wo sie steckt. Ich hatte gerade Sex mit ihr.“
Fast hätte Patrice entnervt aufgeseufzt. „Das befürchtest du?“
„Übertrieben?“ Miranda hob die Schultern. „Vielleicht, aber bisher bin ich mit meiner Vorsicht ganz gut gefahren.“
„Zumindest hast du es dadurch geschafft, fünf Jahre enthaltsam zu leben.“ Patrice entschied sich für einen grünen Lidschatten. „Setzt dir das nicht zu?“
„Manchmal schon.“ Eigentlich sogar sehr oft. „Gestern Nacht hat uns nur der Mangel an Kondomen aufgehalten.“
„Hab ich dir nicht gesagt, du sollst dir mit jedem Paket Tampons auch Kondome kaufen?“
Jetzt wurde Miranda rot. „Wenn ich das jedes Mal getan hätte, besäße ich jetzt einen Vorrat, der locker bis zu den Wechseljahren reichte.“
Patrice schminkte sich die Lider und betonte mit dunklem Kajal die Augenwinkel. „Wenn du auch nur ein Mal daran gedacht hättest, würdest du jetzt verklärt und selig lächeln.“ Nachdenklich ließ sie die Hände sinken. „Hoffentlich fängt Alan an, mir die Kleider vom Leib zu
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