Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition)
wie eine Mutter für ihre Kinder – mit Raffinesse, Charme, Salamitaktik und Versprechungen. Doch die Helix-Agglutinine waren zu diesem Zeitpunkt schon das Einzige, was ihm noch Hoffnung auf eine wissenschaftliche Ausnahmestellung machen konnte. Prokop, der eigentlich Augenarzt werden wollte, dann durch einen Zufall in der Rechtsmedizin landete, in der Tiefe seines Herzens aber eindeutig Naturwissenschaftler war, rannte zum ersten Mal im Leben erkennbar gegen die Wand. Allerdings glaubte er noch, die Hindernisse mit Ausdauer durchbrechen zu können. Er sollte sich irren.
Das Netz wird enger
Da Prokop zwangsweise mit dem ostdeutschen Geheimdienst zu tun hatte – beispielweise bei der Untersuchung der Mauertoten –, näherte er sich nun der Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität an. Diese hatte im Jahr 1970 einen Vertrag mit dem Generalstaatsanwalt geschlossen, um »die gesellschaftliche Wirksamkeit im Kampf gegen die Kriminalität und deren Vorbeugung zu erhöhen«. Staatsanwälten wurde damit die Möglichkeit gegeben, ein kriminalistisches Diplom an der Universität zu erwerben. Das Fach Rechtsmedizin wurde dabei laut Prokop pro Kurs achtzig Stunden lang gelehrt und zum Abschluss geprüft.
Umgekehrt stellte die Staatsanwaltschaft ein ständiges Mitglied im Rat der Sektion Kriminalistik »und nimmt dadurch Einfluss auf die Planung der Aufgaben und die Arbeitsweise der Sektion sowie auf die Einführung der Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit in die Praxis«, wie es im Vertrag zwischen Universität und Staatsanwaltschaft heißt. »Er informiert die Sektion über die Hauptrichtungen der Kriminalitätsentwicklung und Erfahrungen in der Leitung des Kampfes gegen Straftaten und die Probleme der Vorbeugung.«
Die Verbindung zwischen Staatsanwälten, Kriminalisten, Universitätsforschern und Geheimdiensten beschnitt jede noch vorhandene Unabhängigkeit, weil nun auch offiziell »abgestimmt« werden musste, wer wie arbeitete. Dass die Politik das letzte Wort hatte und nicht die Forscher, war somit klar. Die Arbeit an vielen Delikten, die statt zur normalen Kripo der Volkspolizei ohnehin zur davon getrennt arbeitenden Kripo des Ministeriums für Staatssicherheit gingen , wurde nun immer stärker mit der Arbeit der Forscher und der Staatsanwaltschaft verquickt.
»Kam es zu einem sogenannten Kapitalverbrechen«, berichtet dazu Uwe Skalske, ehemaliger Leiter der Polizeiwache Cottbus, »arbeitete an seiner Aufklärung nicht nur die Kriminalpolizei. Parallel, in Zusammenarbeit oder Konkurrenz, offen oder im Verborgenen, wirkte regelmäßig auch das Ministerium für Staatssicherheit.«
Die normale Volkspolizei hatte zwar eine eigene Kriminalpolizei, die als »selbständiger Dienstzweig« lief. Wie verzahnt sie aber zwangsläufig mit den offenen oder verdeckten Einsätzen des MfS war, erkennt man bereits aus der Tatsache, dass die Untersuchungsgefängnisse in Ostdeutschland nicht von der Justiz betrieben wurden, sondern dem Innenministerium oder der Staatssicherheit unterstanden.
»Bei der Tätigkeit einer Morduntersuchungskommission (MUK) [der normalen Kripo der Volkspolizei] wurde kein Wert auf Statistik und ›Erbsenzählerei‹ gelegt«, berichtet Skalske. »Die Ermittlungen nach unbekannten Tätern wurden mit hohem personellen und materiellen Aufwand betrieben. Die MUK arbeitete zur Beweisführung frühzeitig und intensiv mit allen infrage kommenden Institutionen und Personen zusammen, insbesondere mit Gerichtsmedizinern, forensischen Psychiatern und Psychologen, technischen Sachverständigen, dem Kriminaltechnischen Institut in Berlin oder Spezialisten der Sektion Kriminalistik an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Fragestellungen erfolgten zumeist direkt und ohne zwingende Mitwirkung der Staatsanwaltschaft [sic!]. Diese Praxis vermied Kosten und langwierige Informationswege.
Ausdrücklich angewiesen war die enge Zusammenarbeit mit dem zuständigen Untersuchungsorgan des MfS.«
Mit anderen Worten: Die Kripo der Volkspolizei konnte, wollte, musste oder durfte mit dem Geheimdienst zusammenarbeiten – je nach Lage offen oder geheim überwacht. Vor allem bei größeren Unglücken wie Flugzeugabstürzen, »Grenzübertritten« (Flucht) und der Verfolgung von straffälligen Stasi-Mitarbeitern oder wenn diese sich selbst töteten, war das MfS gerade in der Hauptstadt immer dabei.
Das ist auch deshalb interessant, weil Otto Prokop in seinem Tresor bis zuletzt die Akten des Flugzeugabsturzes vom 14. August
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