Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition)
verpönt, wie man beispielsweise im »Handbuch zur Untersuchung unnatürlicher Todesfälle« des Innenministeriums nachlesen kann:
Aus einem internen Handbuch, das zwar als Buch verlegt wurde, bis heute aber in keiner mir bekannten Buchliste auftaucht: »Die Untersuchung unnatürlicher Todesfälle« des Innenministeriums (1964). Die Untersuchung der jedem Kriminalisten bekannten Selbstmorde stellte oft einen Eiertanz dar, da man annahm, dass sie Ausdruck eines schlecht funktionierenden Staates seien, der unglückliche Bürger hervorbringe. Dass dies nicht stimmt, zeigt die bis heute unverstandene Verteilung der Selbstmord-Raten auf der Welt.
Eine aktuelle Untersuchung des Institutes für Rechtsmedizin Rostock ergab, dass zumindest in dieser nördlichen Region Ostdeutschlands zwischen 1980 und 1989 etwa ein Viertel der Suizide nicht in der Statistik auftauchten. Sie waren eben unsozialistisch und moralisch verwerflich und wurden daher umgedeutet.
Da Suizide in der Forensik sehr oft vorkommen (sie sind je nach Altersstufe sogar die häufigste Todesart), sitzt die Polizei bis heute oft in der Klemme: Soll man bei jeder Erhängung einer depressiven Person, wenn zudem ein Abschiedsbrief vorliegt, eine Ermittlung einleiten? Heute entscheidet man sich in Deutschland fast immer dagegen. Das war in Ostdeutschland gerade wegen der politischen Vorgabe, genau hinzusehen, anders. Der Vorteil war also, dass als Suizid getarnte Morde in Ostdeutschland häufiger aufgedeckt wurden als heute.
Andererseits werden nur sehr wenige Morde als Selbsttötungen kaschiert. Der tragische Nachteil der politischen Umdeutung von Suiziden war, dass auch bei eindeutigen Selbsttötungen Plan B in Kraft trat: Es sollte möglichst eine Erklärung gefunden werden, die irgendwo außerhalb der sozialistischen Welt lag, beispielsweise in ideologischer Verirrung.
Prokop hebelte diese absurde Vorgabe aus, indem er die angeblich »kapitalistischen« Hintergründe mancher Selbsttötungen einfach gar nicht ansprach. Auch über Depressionen und andere seit Jahrhunderten gut untersuchte Suizid-Gründe findet sich in seinem Atlas kein Wort. Stattdessen ist sachlich beschreibend von »Erhängungen«, »Selbstmorden«, »Selbsttötungen«, »Suiziden« und so weiter die Rede, ohne je auf seelische oder gesellschaftliche Ursachen einzugehen – ein weiteres Beispiel für Prokops Lavieren, Taktieren und Arrangieren.
Ganz selten stolperte Prokop über seine eigene Arrangierfreudigkeit. Unter dem Begriff »Selbstmord« führte er beispielsweise auch die Verschüttung eines alten Mannes, der sich in einem selbst gegrabenen Loch aufhielt, als es einstürzte. Das ist aber kein Suizid, wie wir ihn in der Forensik verstehen, sondern ganz klar ein Unfall. Die Definitionsunschärfe des Ost-Suizids forderte also hin und wieder auch bei Prokop ihren fachlichen Preis.
Fotos und Fälle
Gesichtsrekonstruktionen und andere damals nachweislich unzuverlässige, aber bereits in Mode gekommene Verfahren lehnte Prokop ab und nahm sie nicht in den Atlas auf. Er ließ sich auch nicht von der Tatsache schrecken, dass der sowjetische Erfinder der Gesichts-Wiederherstellungs-Methode eine »hundertprozentige Aufklärungsquote« versprach. Im Atlas kommt das Verfahren nicht vor, und Prokop äußerte sich auch später noch ausdrücklich dagegen. Einer der Gründe dafür waren offensichtlich fehlerhafte Wiedererschaffungen der Schädel und Gesichter berühmter Personen, darunter das Gesicht von Mozart, den Prokop verehrte.
Schließlich durfte im Atlas auch ein kleines Kapitel über Aberglaube nicht fehlen. Als Beispiele dienten Prokop die Selbstverbrennung in »religiösem Wahnsinn« sowie das Foto der Leiche des Illusionskünstlers Hanussen – wie immer nebst Kurzdarstellung des Falles am Bild.
Für mich hat der Atlas bis heute großen Wert, auch weil die Fotos oft großformatig und nicht in enge Textspalten gezwängt sind. Man sieht auf den Abbildungen wirklich, worum es geht, und muss es nicht zwischen Pixeln und Fehlfarben erraten.
Nützlich sind auch die mit Literaturangaben versehenen Begleittexte zu den Fotos. Über den erwähnten »Hellseher« Hanussen liest man unter dem Foto beispielsweise die folgende Kriminalminiatur mit eingestreuten Namen von Autoren, die sich ebenfalls mit dem Fall befassten:
»Auffindungssituation des Hellsehers Hanussen:
Der › Hellseher ‹ Jan Erik Hanussen (Künstlername, mit bürgerlichem Namen Hermann Steinschneider), wurde nach persönlicher
Weitere Kostenlose Bücher