Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition)
deshalb, das war eine ganz merkwürdige Geschichte. Dir ist doch der Voss [Hermann Voss, 1894–1987] ein Begriff – »Anatomie« von Voss. Jeder Medizinstudent in Deutschland muss nach diesem kleinen Büchlein Anatomie lernen, jeder.
Dieser Voss ist ein Mann, der ein ganz übler Nazi war, der in Polen saß und dort Leichen hat herstellen lassen von Leuten aus dem Widerstand. Die hat der direkt bestellt, bringen lassen und in seinem Institut … da war so eine Bleiche, eine Knochenbleiche auf dem Dach – sein Schönstes war, sich da hinzulegen, während die Knochen der Leute bleichten für die Skelettsammlung oder zum Verkauf. Er hat beschrieben, wie das knackt in der Sonne. [Diese Aussagen sind vollständig durch Dokumente belegt, vgl. Herber: »Gerichtsmedizin unterm Hakenkreuz«.]
Also, Herr Voss – ein ganz übles Schwein, jeder hat das gewusst – ist in der DDR unangetastet gewesen, war Anatomieprofessor, hat sogar noch einen Orden gekriegt. Erst als alter Mann, als Rentner oder so, ist er ausgereist. Das war Herr Voss, und da gibt’s noch einige andere Beispiele.
Wie erklärst du dir das?
Ich kann’s nicht sagen. Ich bin nie drauf gekommen. Aber von solchen gab es einige und viele – weniger schlimme als Voss –, Leute wie Prokop, die einfach mal das Fähnlein hochhalten wollten und mal wieder über die Schönheiten der Wehrmacht und männerbündischen Kameradschaft und über die Schrecklichkeiten der Frontkämpfe und so reden, da kannst du ganz sicher sein. Und das gab’s in der DDR. Das sind Geheimnisse, die sind unbekannt. Weil sie auch widersinnig sind, und niemand kommt drauf.
Das stimmt.
Es ist geduldet worden, weil man diese Leute brauchte.
Ich war dabei, als Prokop nicht Ehrenmitglied der Gesellschaft für Rechtsmedizin wurde.
Nach der Wende? Ja, eben. Oh, da hat er geweint.
In der DDR hielt er öffentliche Vorträge.
Die Sonntagsvorlesung.
An den Bäumen sollen Zettel gehangen haben.
Ja, die Veranstaltungen waren rammelvoll. Er ist ein Selbstdarsteller. Er war ein Gott, er konnte machen, was er wollte.
Ach, wir haben ihn ja oft besucht. Er wurde immer zutraulicher, geradezu leichtsinnig zutraulich. Er hat mir zum Beispiel die Meinhof-Akte [1976 im Gefängnis verstorbene Journalistin und Terroristin] geschenkt. Er glaube an den Selbstmord, hat er gesagt. Ich habe gesagt, ich nicht, und da haben wir lange drüber hin- und hergeredet, und er hat gesagt, er könnte letztlich nichts dazu sagen, weil es keinen wissenschaftlichen Beweis gebe, und die Sache mit dem Seil, mit dem abgerissenen Streifen vom Handtuch da, die wäre eben irgendwie doch etwas wacklig, aber da hatte er zum Beispiel auch wahnsinnig Angst. Er wusste Sachen, ich bin mir ganz sicher. Er musste aus ganz vielen Gründen Schiss haben.
Deswegen hat er vielleicht auch die Mauerakten [Akten über die rechtsmedizinische Untersuchung der meist bei der Flucht aus der DDR an der Berliner Mauer verstorbenen Menschen] vorgezeigt.
Das hat er bei uns auch gemacht. Die hat er uns übrigens geschenkt. Er hat sie dann etwas später wiederverlangt, weil jemand was darüber machen wollte. Das war ihm ganz peinlich. Er wollte sie wiederhaben, aber nur leihweise. Ich habe sie nie wiedergesehen. Gott sei Dank, ich wollte die gar nicht haben, das war mir zu blöd.
Zu den Mauerakten: Wie kann sich ein Mensch darauf einstellen, etwas nur rein formell richtig zu machen?
Da spielen Dienstweg, Dienstverpflichtung, Loyalität dem Staat gegenüber, all diese Sachen, mit hinein. Sein Gutachten war in Ordnung, aber er hat keinen Einspruch erhoben gegen die Verfälschungen der Stasi, die die Sache politisch vollkommen anders dargestellt hat. Er fand auch nicht, dass das seine Aufgabe ist, weil er als Gerichtsmediziner getan hat, was er musste.
Es ist aber gerade der Job des Forensikers, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Das ist das oberste Gesetz, der Leitstern überhaupt. Und dazu gehört dann auch, wenn eine politische Verschleierung, oder noch schlimmer: Verstümmelung, der Wahrheit stattfindet, dass man dagegen was macht. Intern wird er schon was gesagt haben, und da haben sie ihm wahrscheinlich schon mal die kalte Schulter gezeigt, und dann war’s gut.
Das könnte sein.
Natürlich. Prokop war ja auch ziemlich naiv. Er hat immer gedacht, was gilt, das gilt. Dass das in bestimmten Konstellationen nicht weit reicht, ist ihm, glaube ich, nicht so ohne Weiteres eingegangen.
Das kommt vielleicht auch aus diesem kindlich Verspielten.
Gerade
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