Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition)
er zu seiner Zeit und welchen Zwängen unterlag er.
Es gibt immer neue Handlungsfelder, wo die Übergänge zum Teil fließend sind. Das kennt man ja auch aus seiner eigenen Biografie. Und wenn man den Blick auf diese einzelnen Felder legt, dann bricht man dieses rein chronologische ein bisschen auf.
Jeder Mensch geistert letztlich in seiner eigenen Biografie herum, ohne zu merken, dass er dabei im Rückblick in Handlungsräumen lebt.
Ja. Ein Beispiel ist Sebastian Haffner [1907–1999, Historiker und Journalist; beschäftigte sich mit dem Dritten Reich und dessen Darstellung]. Die Nationalsozialisten hatten ziemlich schnell eingeführt, dass jeder, der in Preußen Jurist werden wollte – also als Rechtsreferendar –, eine bestimmte Zeit in einem NS-Schulungslager sein musste. Haffner schreibt Ende der 30er Jahre über seine Zeit in so einem Schulungslager. Er ist danach nach England emigriert und hat das reflektiert: Die wollten dieses und jenes mit uns machen. So und so hat das funktioniert. So konnte er die Zwänge aufzeigen, die ihm gesetzt wurden.
Normalerweise ist das aber schwierig. Man lebt eben in seiner Zeit, und es ist ganz schwierig, diese Handlungsräume währenddessen zu reflektieren. Man muss sich dazu ja selber aus einer Außenperspektive betrachten.
Du wirkst nicht hundertprozentig überzeugt, dass das nicht doch geht.
Ja, denn auf der anderen Seite hat man oft Aussagen wie: »Wir konnten ja nicht anders«, oder: »Das war halt so.« Es ist immer die Frage, ob das in dem Moment auch so empfunden worden ist.
Das Problem bei Lebensgeschichten ist, dass diese immer die persönliche Rekonstruktion der eigenen Vergangenheit sind. Dabei geht es auch darum, was wird erinnert, was wird vergessen, was wird verdrängt, was wird erzählt, wo kann man sich selber in ein positives Licht rücken. Wo nimmt man sich eher zurück, damit man nicht in ein negatives Licht gerückt wird?
Lebensgeschichten können immer eine Legitimierung der eigenen Handlung sein. Es ist ganz schwierig, weil man trennen muss, was wird erzählt, was ist das Sagbare, was das Nichtsagbare, was ist das Erzählbare und was das Nichterzählbare.
Letztendlich entscheidet ja derjenige, der erzählt. Der hat die Hoheit über sein Wissen um die Vergangenheit, von dem er sich aber auch entfernt. Das ist auch zeitgebunden, genauso wie ein Biograf zeitgebunden ist – eine zeitgebundene Rückschau.
Wir zwei haben uns neulich darüber unterhalten, dass die Deutung von dem, was überhaupt passiert, schwierig ist. Wir hatten als Beispiel traumatische Ereignisse, Ritter oder Kämpfer, die in irgendeine Handlung verstrickt werden und überhaupt nicht ihr soziales Kästchen reflektieren können. Erstens, weil sie es sozial oder kulturell nicht können, aber zweitens, weil sie gerade etwas anderes zu tun haben, nämlich Leichen wegzuräumen oder weiterzuziehen. Was ist dir da so aufgefallen an Quellen – und an Problemen mit Quellen, wenn solche Menschen sich selber beschreiben oder das, was passiert ist?
Mein Beispiel war eine Schlacht aus dem Krieg 1870/71 gegen Frankreich, wo man unterschiedlichste Quellengruppen hat [Deutsch-Französischer Krieg; 400 000 Tote und Gefangene]. Das fängt an mit Briefen, die geschrieben wurden – sehr zeitnah zu dem Ereignis. Das spiegelt die Primärerfahrung wieder. Da ist jemand auf dem Schlachtfeld und kämpft dort, er schwitzt, sieht Leute sterben, hat Durst und Hunger und wird verwundet, er hat Schmerzen und macht diese Primärerfahrungen.
Diejenigen, denen davon berichtet wird, können diese Primärerfahrung nur als Sekundärerfahrung teilen, weil ihnen ja nur davon erzählt wird. 1870/71 fand der Krieg fast ausschließlich in Frankreich statt und kaum in Deutschland. Es gab aber einen unheimlichen Wissensdurst in Deutschland darüber, was dort passiert. In diesen Kriegen Mitte des 19. Jahrhunderts – das geht mit dem Krimkrieg los, dann der amerikanische Bürgerkrieg und so weiter – hatte man den neuen Beruf des Kriegsberichterstatters. Es gab Telegrafenverbindungen, die neue Technik spielt da rein, ziemlich zeitnah kamen Meldungen nach hinten. Zeitungen, die dann zum Massenmedium auswuchsen, berichteten, und so wurden viele Sekundärerfahrungen gemacht. Die sind dann aber schon gedeutet. Hinten gibt es nur die Erzählung, die von vorn nach hinten transportiert wird, aber keine Primärerfahrung.
Das Interessante ist, dass dieser Sieg im Krieg 1870/71, der auf Grundlage vieler individueller
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