Shakran
wann?
Und warum?
Andrea Weston, ihr Alter Ego, war Dolmetscherin von Beruf, aber den Unterlagen nach beherrschte Andrea nur Spanisch, Italienisch, Russisch, Französisch und Deutsch. Aber Japanisch?
Doch das war jetzt nicht wichtig. Sie hatte viel ernsthaftere Probleme, denn sie wusste nicht, wie sie weiter vorgehen sollte. Sie hatte Agent Bridges ihre Aussage und die Zeichnungen zukommen lassen, aber sie hatte den Schlüssel zurückbehalten. Warum?
Instinkt? Reflex? Wenn sie ehrlich war, dann wollte sie selbst herausfinden, was es mit dem Schlüssel auf sich hatte. Und dann?
Das Arschloch finden und umlegen.
Okay, dachte Ann leicht amüsiert, das wäre eine Möglichkeit. Aber wie?
Sollte sie sich beim FBI melden? Gestern, beim Krankenhaus, waren die beiden FBI-Beamten keine fünf Meter entfernt an ihr vorbeigegangen. Die beiden hatten müde und frustriert ausgesehen. Der Mann hatte gewirkt wie ein betäubtes Raubtier.
Ann mochte sein kantiges Gesicht. Die Frau hatte Stil. Ann fand beide überraschend sympathisch.
Aber am meisten hatte die Tochter des Senators sie beeindruckt.
Wie es ihr jetzt wohl ging? Die Medien hatten sich natürlich auf diese Sensation gestürzt, waren voller Spekulationen und falscher Sympathie.
Zwei Männer hatten sich bereits der Polizei gestellt und den Mord an Senator Malvern und die Morde in dessen Haus gestanden. Leider hatten beide in früheren Zeiten schon den Mord an John F. Kennedy und Martin Luther King gestanden.
Ann war müde, so müde, dass sie kaum noch imstande war, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie hasste diese Nachtflüge.
Sie streckte sich, was die Aufmerksamkeit der Japaner von Neuem weckte. Was nun?
Sie war als Andrea Weston hergeflogen. Captain Kramer kannte Andrea Weston nicht, und das war vielleicht auch ganz gut so. Dieser Gedanke bedrückte Ann, denn er zeigte, wie sehr sie sich dagegen wehrte, dem Mann zu vertrauen, dem sie ganz eindeutig ihr Leben zu verdanken hatte. Der Taucher hatte sie aus dem Wasser gezogen, aber Kramer war es gewesen, der ihr den Mut zum Leben zurückgegeben hatte. Ann erinnerte sich noch sehr gut daran, wie er sie im Krankenhaus besucht hatte, wie sehr er ihr geholfen hatte.
Er war ein Freund für sie, vielleicht der einzige, den sie hatte. Dennoch hatte sie den Kontakt zu ihm abgebrochen.
Warum?
Freunde können einen umbringen.
Danke, dachte sie bitter. Sie schüttelte leicht den Kopf. Kein Wunder, dass sie nicht wieder zurückwollte in die Welt, aus der Juliet gekommen war.
Irgendwie war ihr Glas leer geworden. Der Barkeeper war aufmerksam, als sie den Finger hob, und stellte wenige Augenblicke später ein volles Glas vor sie auf den Tisch. Die Japaner waren irgendwann gegangen.
Sie sah auf die Uhr. Egal. Chet Kramer zog sowieso die Nachtschicht vor, das wusste sie noch. Vielleicht hatte sie ja Glück.
Ann holte ein nagelneues Handy aus ihrer Handtasche, zögerte kurz, wählte dann die Nummer, die sie nicht vergessen hatte.
Vielleicht ...
»Kramer, Morddezernat.«
»Hallo, Chet.«
Pause. »Tut mir leid, kenne ich nicht.« Es klickte, er hatte aufgelegt.
Ann sah fassungslos auf das Handy und klappte es langsam zu. So viel zu Freunden, dachte sie bitter, während sie versuchte, Kramers Reaktion zu verdauen. Es fühlte sich an wie ein Faustschlag in den Magen. Wenn sie ehrlich war, konnte sie es ihm wohl kaum verübeln. Sie hatte sich an ihn geklammert, als sie es brauchte, und irgendwann war sie spurlos verschwunden aus seinem Leben. So behandelte man keine Freunde.
Sie sah ihr Glas an, es überraschte sie, dass es voll war, sie hatte doch schon getrunken, oder? Noch im selben Augenblick sah sie ein anderes Glas vor sich, einen anderen Tisch ...
... eine andere Hotelbar. Sie war aus Bambus, stand auf einer Terrasse; es war warm und schwül. Manila. Ihr Vater saß ihr gegenüber, sein Pilotenhemd mit den kurzen Ärmeln war schweißgetränkt. Er war unglücklich. »Der Job ist nichts für dich, Poppet. Warum denkst du jetzt schon darüber nach? Studier doch erst mal zu Ende. Genieß Paris. Es ist die Stadt der Liebe. Geh mit Charles aus. Das solltest du tun.«
Sie hörte seine Stimme, sie war wie die weiten, wogenden Kornfelder in Kansas, wo er herkam. Weit und breit kein Ozean in Sicht. Deshalb war er zur Navy gegangen.
»Ich weiß, was ich will, Papa. Und in zwei Jahren bin ich fertig«, antwortete sie. »Und Charles ... Er ist manchmal so stur!«
Ihr Vater lächelte. »Vielleicht hat er seine Gründe.« Er
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