Shanera (German Edition)
wollte behaupten, dass die Wahrheit immer erfreulich war?
„Ich denke, es ist nicht Deine Schuld.“, sagte sie schließlich. „Wer fragt, muss eben mit unangenehmen Antworten rechnen.“ Ihr fiel ihre erste Frage wieder ein und sie musste beinahe lachen. „Ich hoffe, bei der Schrift auf dem Leuchtholz fällt die Aufklärung etwas erfreulicher aus.“
„Keine Sorge.“, erwiderte Kessy. „Was für unangenehme Dinge könnte man in neun Zeichen schon ausdrücken?“
„Mir würde da genug einfallen. Geh einfach und finde es heraus, ja?“ Sie wedelte mit der Hand in Richtung Tür und Kessy ergriff dankbar die Gelegenheit zur Flucht.
*
Tag 26
Der nächste Morgen brachte eine weitere Unterbrechung ihrer Fahrt. Als die Kintari erwachten, hatten sich die üblichen Hintergrundgeräusche verändert und sie wussten, dass das Schiff angehalten hatte.
Shanera war als erste auf den Beinen und steckte ihre Nase in die Küche. Niemand war zu sehen. Sie schlenderte zu einem der Schränke und bediente sich bei den Essensvorräten mit einem Becher süßlichen Safts und ein paar getrockneten Fleischstücken. Zumindest nahm sie an, dass es Trockenfleisch war. Ganz sicher war sie nicht.
„Kessy?“, fragte sie laut in den Raum, nachdem sie den letzten Bissen herunter geschlungen hatte. „Wo seid Ihr?“
Eine Antwort blieb aus, dafür öffnete sich die zweite Tür des Raums. Koras kam herein, noch leicht verschlafen.
„Hast Du heute Morgen schon jemanden gesehen?“, fragte sie ihn.
Er winkte ab. „Sind wohl alle weg.“
„Kann ich mir nicht vorstellen.“
Eine Stimme aus dem Nichts bestätigte sie. Kessy war zu hören, wenn auch nicht zu sehen.
„Guten Morgen. Ich bin hier … in der Befehlszentrale. Rey und Noor sind draußen und holen einen unserer Aufklärer zurück. Er ist wohl irgendwo hängen geblieben, aber das sollte bald erledigt sein. Dann geht es weiter.“
„Wo sind wir?“, fragte Shanera.
„Wir sind an der Großen Wand. Allerdings ein gutes Stück von Eurer Heimat entfernt.“
Die Große Wand! Doch selbst wenn sie das Schiff hier verlassen könnten, wussten sie nicht, in welche Richtung sie gehen sollten und wie lange es dauern würde, bis sie bekanntes Gebiet erreichten. Sie konnten inzwischen viele Tagesmärsche weit geflogen sein, vielleicht sogar Mondzyklen.
„Können wir irgendwo nach draußen sehen?“
„Das lässt sich machen.“, verkündete Kessy.
Auf einem freien Stück Wand erschien ein großes Panoramabild, welches einen Ausblick auf die Landschaft zeigte. Shanera zwinkerte und brauchte einen Moment, bevor sie das Bild einordnen konnte.
Die Große Wand war da, doch in ungewohnter Perspektive. Offenbar schwebten sie, mit einigem Abstand, knapp unter der oberen Kante der majestätischen Felsformation. Von Rissen und Absätzen durchzogenes Gestein erstreckte sich, soweit das Auge reichte. Die Wand fiel genauso steil ab wie in der Umgebung ihres Dorfes.
Sie konnte mehrere Klippentaucher vorbeiziehen sehen. Flach einfallende Morgensonne warf lange Schatten über den Fels, der sich an einigen Stellen in Nebelschwaden auflöste. Am rechten Bildrand weit unter ihnen hingen die Wolken der Tiefebene, vom Morgenlicht beleuchtet.
Shanera spähte angestrengt nach draußen, doch sie konnte kein Anzeichen für eine Siedlung erkennen. Kaum verwunderlich, sonst würden sie hier wohl nicht so offen herumfliegen.
„Wow!“ Zela stand plötzlich hinter ihr. „Wir sind doch nicht …“
„… wieder zu Hause?“, ergänzte Koras. „Leider nein. Aber nach dem ganzen Sumpf und Urwald bin ich echt froh, wieder guten, ehrlichen Fels zu sehen.“
„Das wollte ich immer schon mal.“, murmelte Zela. „Fliegen wie ein Vogel … Aus dieser Perspektive habe ich die Große Wand noch nie gesehen. Seht nur die Klippentaucher!“ Sie zeigte begeistert auf das Bild, wo zwei der großen Vögel sich mehrfach umkreisten und dann im Sturzflug nach unten tauchten, haarscharf an den Felsen vorbei.
Koras ging zu dem Panoramabild hin, betastete die Bildfläche und sah sich die bewegte Darstellung von so nahe an, dass er fast mit der Nase im Bild klebte. Schließlich schüttelte er den Kopf und setzte sich auf den nächsten Stuhl.
„Wo sind Rey und Noor?“, erkundigte sich Shanera.
„Moment.“, ertönte Kessys Stimme und das Bild schwenkte langsam nach links. In der Großen Wand offenbarte sich eine ungewöhnliche Formation. Die sonst fast gerade Linie der oberen Kante war unterbrochen, wie nach unten
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