SHANNICE STARR (German Edition)
konnte. Shannice saß auf und trieb den schwarzen Hengst an. Im Galopp lenkte sie ihn die Main Street entlang, verlangsamte ihren Ritt auf Höhe des Boardinghouse am Ende der Straße und überlegte für einen Moment, ob sie hineingehen sollte. Vielleicht würde sie Hinweise über das weitere Vorgehen der Bande finden oder eine Spur, die die Beteiligung des Mayors am Betrug an den Gilliams bewies. Schnell jedoch verwarf sie den Gedanken wieder. Ihr Instinkt riet Shannice, an ihrem ursprünglichen Vorhaben festzuhalten.
Gefahr lag in der Luft. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ein Leichentuch, das sich unaufhaltsam über die Stadt und ihre Bewohner legte. Eine unergründliche Furcht um das Leben der Farmerfamilie spornte die Halbindianerin an, auf ihrem Trail zu bleiben und der Killermeute zu folgen.
Schneidend pfiff kalter Wind über das Land. Der Boden war hart und vereist. So trabte der Rappe nur langsam voran. Eine knappe Stunde dauerte es, bis Shannice die Weggabelung erreichte, die rechts zur Farm der Gilliams und links zur Goldmine führte. Zum ersten Mal nahm Shannice die meterhohe Felsnadel zur Kenntnis, die gleich einem drohenden Mahnmal in den verhangenen Himmel ragte und trotz der Felswände zu beiden Seiten des Weges nicht recht in das Bild der Umgebung passen wollte.
Der Dead Man’s Peak, raunten ihre Gedanken. Dort war vor Jahrzehnten ein weißer Siedler von Indianern zu Tode gefoltert worden. Shannice wusste es aus einem Gespräch, das sie im Saloon aufgeschnappt hatte.
Aber es war noch etwas anderes, das ihre Aufmerksamkeit erregte. Shannice schwang sich aus dem Sattel und nahm ihre Entdeckung in näheren Augenschein, um sicherzugehen, dass sie sich nicht täuschte.
Nein!, sagte sie sich. Keine Täuschung!
Trotz des festgefrorenen Untergrunds erkannte sie die feinen Abdrücke beschlagener Hufe. Mindestens zehn Reiter mussten sich vor nicht allzu langer Zeit an dieser Stelle versammelt haben. Eigentümlicherweise führten die Spuren auseinander. Das Gros der Truppe war in Richtung Goldmine weitergeritten, während drei oder vier Berittene den Weg zur Gilliamfarm genommen hatten.
Das Gefühl akuter Bedrohung in Shannice verstärkte sich.
Sie sind unterwegs, Frank und seine Familie zu ermorden! Shannice Starr hegte keinen Zweifel daran.
Sekunden darauf saß sie bereits wieder im Sattel und stieß die Hacken ihrer Stiefel in die Flanken des Pferdes.
Es war ein Wettlauf gegen die Zeit! Doch wenn sie sich beeilte, konnte sie das Schlimmste womöglich verhindern.
Diese trügerische Hoffnung war es, die Shannice jegliche Vorsicht vergessen ließ!
Nach kurzem Mittagsschlaf erwachte Clarissa Norrington wenig ausgeruht. Sie rieb sich die Augen und trat ans Fenster, das zu dem kleinen, mit Brettern eingezäunten Garten zeigte. Der Himmel war grau in Grau. Leichter Wind brachte vereinzelte Schneeflocken mit sich. Auf dem Gras und den Büschen lag eine unberührte Schneedecke.
Clarissa Norrington wandte sich ab, ging hinüber zum Kleiderschrank und rückte das Kostüm zurecht, das sie über einen Bügel gehängt hatte. Es stammte von dem Geld, das Gideon J. P. Etherwood ihr geschenkt hatte, aber rechte Freude wollte sie beim Anblick des Kleidungsstücks nicht empfinden. Obwohl er ihr buchstäblich jeden Wunsch von den Augen ablas, wollte sie sich nicht an den alten, unansehnlichen Mann binden. Schon gar nicht wollte sie seine heimliche Geliebte bleiben. Mit ihren neunzehn Jahren und ihrem Aussehen konnte sie jeden Mann erobern. Was sie hingegen lockte, waren die Annehmlichkeiten, die ihre Freundschaft zu Etherwood mit sich brachte. Daher hatte sie dem Bürgermeister auch nahegelegt, sie zur Frau zu nehmen. Ansehen und Geld waren eine gute Motivation, an der Seite eines Mannes zu leben, der sonst nicht viel zu bieten hatte. War Clarissa erst einmal seine Frau, konnte sie sich immer noch mit jüngeren Männern amüsieren, besaß dann jedoch die Vorteile einer abgesicherten Existenz. Momentan gefiel es ihr noch, Marie-Elizabeth Etherwood auf die hinteren Ränge zu verweisen, doch dies durfte kein endgültiger Zustand bleiben. Clarissa Norrington erhoffte sich mehr. Und sie nahm sich vor, es auch zu bekommen.
In ihre Überlegungen vertieft schrak sie auf, als sie ein knackendes Geräusch hörte. Es schien aus dem Nebenzimmer zu kommen. Als es sich wiederholte, ging sie zur Tür, öffnete sie zaghaft – und schrak zusammen!
»Wer sind Sie?«, keuchte Clarissa.
Vor ihr stand ein Mann in langem
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