Sharpes Beute
gewaltiger Sturm. Wir warteten, aber Nils kam niemals. Aber ich sah ihn jeden Tag. Wenn ich einen Fremden auf der Straße sah, dachte ich, das ist Nils. Er ist zurückgekommen! Aber dann drehte sich der Fremde um, und es war nicht Nils.« Sie schaute Sharpe nicht an, während sie sprach, sondern starrte aufs Meer hinaus, und Sharpe fragte sich, ob sie in der ersten Zeit ihrer Witwenschaft hierhergegangen war und nach ihrem Mann Ausschau gehalten hatte. »Dann sah ich Sie im Haus ...«, sie blickte Sharpe mit ihren großen Augen an, »... und ich glaubte, es sei Nils. Für einen Moment war ich so glücklich.«
»Es tut mir leid«, sagte Sharpe verlegen. Er wusste, wie sie sich gefühlt haben musste, denn es war ihm ähnlich ergangen. Wenn er seit Graces Tod eine dunkelhaarige Frau auf der Straße gesehen hatte, hatte er gedacht, es sei Grace. Sein Herz hatte einen Sprung gemacht, und nach der Enttäuschung war dann der gleiche dumpfe Schmerz wieder da gewesen.
Möwen schrien über dem Kanal. »Meinen Sie wirklich, dass wir in Gefahr sind?«, fragte Astrid.
»Sie wissen, was Ihr Vater tut?«
Sie nickte. »Ich habe ihm in den letzten paar Jahren geholfen. Seit Mutter starb. Er korrespondiert, Lieutenant, das ist alles. Er korrespondiert.«
»Mit Leuten in Europa und in Britannien.«
»Ja.« Sie starrte auf die britische Flotte. »Er macht Geschäfte im gesamten Ostseeraum und im Norden der deutschen Staaten, und so gibt es unzählige Leute, die ihm schreiben. Wenn eine französische Artilleriekolonne durch Magdeburg kommt, wird er das binnen einer Woche erfahren.«
»Und er teilt es den Briten mit?«
» Ja .«
»Gefährliche Arbeit«, sagte Sharpe.
»Eigentlich nicht. Seine Korrespondenten wissen, wie man sicher Informationen austauscht. Ich helfe meinem Vater, weil seine Augen nicht mehr so gut sind, wie sie mal waren. Einige der besten Korrespondenten schicken ihm Zeitungen. Die Franzosen haben nichts dagegen, dass Zeitungen über Dänemark kursieren, besonders nicht, wenn sie aus Paris sind und den Kaiser preisen, doch wenn Sie die Zeitung entfalten und gegen ein Fenster halten, können Sie sehen, dass jemand eine Nadel Hunderte Male durch die Seiten gestochen hat. Jeder Stich unter einem Buchstaben, und ich lese die Buchstaben in der richtigen Reihenfolge, und das ist die Botschaft.« Sie zuckte mit den Schultern. »Es ist nicht so gefährlich.«
»Aber die Franzosen wissen jetzt, wer er ist«, gab Sharpe zu bedenken. »Sie wollen wissen, wer ihm schreibt, wer diese Nadelstiche in die Zeitungen macht. Sie wollen die Botschaften stoppen, und Ihr Vater kann ihnen die Namen seiner Kontakte nennen. Deshalb ist es gefährlich.«
Astrid schwieg eine Weile. Sie blickte zu einem Kanonenboot, das aus dem Hafen gerudert wurde. Eine schwere Sperre aus angeketteten Baumstämmen schützte seine Ein- und Ausfahrt, doch sie war beiseitegeschafft worden, und das Kanonenboot konnte passieren. Es hatte einen hohen Mast, an dem ein eingerolltes Segel hing, doch der schwache Wind reichte nicht zum Segeln aus, und so ruderte ein Dutzend Seeleute das plumpe Boot aus dem Kanal. Das Boot hatte einen hässlichen, schnabelähnlichen Bug, auf dem zwei schwere Kanonen mit langen Rohren standen, 24-Pfünder, schätzte Sharpe. Geschütze, die auf große Distanz feuern und treffen konnten. Und es gab ein Dutzend anderer Kanonenboote am fernen Kai, wo Pulver und Kanonenkugeln aus Karren entladen wurden. Andere Boote brachten Proviant in die Stadt.
»Ich hoffte, die Gefahr ist vorbei«, sagte Astrid nach langem Schweigen, »nachdem die Franzosen jetzt weg sind. Aber es hört wenigstens das langweilige Leben auf.«
»Ist das Leben langweilig?«, fragte Sharpe.
Sie lächelte. »Ich gehe in die Kirche, mache die Buchhaltung und kümmere mich um Vater.« Sie zuckte mit den Schultern. »Das muss sehr langweilig für Sie klingen.«
»Mein Leben ist langweilig geworden«, sagte Sharpe und dachte an seinen Job als Quartiermeister.
»Sie?« Sie scherzte mit strahlenden Augen. »Sie sind Soldat! Sie klettern in Kamine und töten Leute!« Sie erschauderte. »Ihr Leben ist zu aufregend.«
Er blickte zu dem Kanonenboot. Die Ruderer pullten hart, doch das Boot kam nur langsam voran. Es kämpfte gegen die Flut an, und die Ruderer legten sich ins Zeug, als könnte allein ihre Muskelkraft die Briten zur Umkehr veranlassen.
»Ich bin jetzt dreißig«, sagte er, »und seit vierzehn Jahren Soldat. Zuvor war ich ein Kind, ein Nichts.«
»Niemand ist
Weitere Kostenlose Bücher