Sharpes Flucht
Jüngsten Gericht. Aber morgen würde es seinen Anfang nehmen, mit sechzigtausend Franzosen, die den Hügel erobern wollten. Morgen.
Marschall Ney, der zweithöchste im Rang der l’Armée de Portugal, nahm an, das gesamte feindliche Heer müsse sich auf der Anhöhe befinden. Es gab auf der finsteren Höhe keine Feuer, die ihre Anwesenheit verraten hätten, aber Ney konnte sie wittern. Das war der Instinkt eines Soldaten. Die Bastarde bereiteten eine Falle vor, sie hofften, die Franzosen würden den Hügel hinauftrotten und sich abschlachten lassen, und Ney fand, der Wunsch sollte ihnen erfüllt werden. Man sollte die Adler dort nach oben schicken und die Bastarde durch den Fleischwolf drehen, aber Ney war nicht der Mann, der eine solche Entscheidung traf, also rief er einen seiner Offiziere, Hauptmann D’Esmenard, zu sich und befahl ihm, Marschall Masséna aufzusuchen. »Sagen Sie Seiner Hoheit«, wies Ney ihn an, »dass die Feinde darauf warten, getötet zu werden. Sagen Sie ihm, er soll schnellstens hierher zurückkommen. Sagen Sie ihm, wir haben hier eine Schlacht auszufechten.«
Hauptmann D’Esmenard hatte einen Weg von mehr als zwanzig Meilen vor sich, und er musste von zweihundert Dragonern begleitet werden, die lange nach Einbruch der Nacht in die kleine Stadt Tondella einfielen. Über der Veranda des Hauses, in dem Masséna logierte, war eine Trikolore gehisst. Sechs Wachtposten standen draußen, auf ihren Musketen steckten Bajonette, in denen sich der Feuerschein des Kohlebeckens spiegelte, das in der plötzlichen Kälte ein wenig Wärme verbreitete.
D’Esmenard stieg die Stufen hinauf und hämmerte an die Tür des Marschalls. Stille antwortete ihm.
D’Esmenard klopfte noch einmal. Diesmal vernahm er das Kichern einer Frau, gefolgt von dem unverwechselbaren Geräusch einer Hand, die auf Fleisch klatscht, und dann lachte die Frau. »Wer ist da?«, rief der Marschall.
»Eine Nachricht von Marschall Ney, Eure Hoheit.« Marschall André Masséna war Herzog von Rivoli und Prinz von Essling.
»Von Ney?«
»Die Feinde haben eindeutig haltgemacht, Sir. Sie sind auf der Anhöhe.«
Das Mädchen kreischte.
»Die Feinde haben was?«
»Haltgemacht, Sir!«, schrie D’Esmenard durch die Tür. »Der Marschall ist der Meinung, Sie sollten zurückkommen.«
Masséna war am Nachmittag ein paar Augenblicke lang in dem Tal unterhalb der Anhöhe gewesen, hatte seiner Meinung Ausdruck verliehen, dass die Feinde hier nicht haltmachen und kämpfen würden, und war dann nach Tondela zurückgeritten. Das Mädchen sagte etwas, es ertönte das Geräusch eines weiteren Klapses, und erneutes Gekicher folgte.
»Marschall Ney glaubt, dass es eine Schlacht geben wird«, sagte D’Esmenard.
»Wer sind Sie?«, fragte der Marschall.
»Hauptmann D’Esmenard, Sir.«
»Also einer von Neys Jungs, richtig?«
»Ja, Sir.«
»Haben Sie schon gegessen, D’Esmenard?«
»Nein, Sir.«
»Gehen Sie nach unten, Captain, sagen Sie meinem Koch, er soll Ihnen ein Abendessen servieren. Ich schließe mich Ihnen gleich an.«
»Sehr wohl, Sir.« D’Esmenard hielt inne. Er hörte ein Stöhnen, ein Seufzen und dann das Geräusch der Bettfedern, die rhythmisch quietschten.
»Sind Sie immer noch da, Hauptmann?«, schrie der Prinz von Essling.
D’Esmenard schlich sich nach unten, glich seine Schritte auf den knarrenden Stufen dem regelmäßigen Hüpfen der Bettfedern an. Er aß kaltes Huhn. Und wartete.
Pedro und Luis Ferreira hatten einander immer nahegestanden. Luis, der Ältere, der Rebell, der große, unbezähmbare Junge, war der intelligentere der beiden gewesen, und wäre er nicht von der Familie ausgestoßen worden, hätte man ihn nicht zu den Nonnen geschickt, die ihn prügelten und demütigten, wäre er nicht aus Coimbra davongerannt, um die Welt zu sehen, hätte er womöglich Bildung erworben und wäre ein Gelehrter geworden, obwohl das in Wahrheit kein sehr wahrscheinliches Schicksal für Luis gewesen wäre. Er war zu groß, zu widerspenstig, er ging zu sorglos mit seinen eigenen und den Gefühlen anderer Männer um, und so war er eben Ferragus geworden. Er hatte die Welt umsegelt, hatte Männer in Afrika, Europa und Amerika getötet, hatte zugesehen, wie die Haie die Sklaven gefressen hatten, die vor der brasilianischen Küste über Bord geworfen wurden, und dann war er nach Hause zu seinem jüngeren Bruder zurückgekehrt, und die beiden, die so verschieden waren und sich doch so nahestanden, waren einander in die Arme
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