Sherlock Holmes - gesammelte Werke
heute früh zu Bett gehen; vielleicht sieht das Ganze im Morgenlicht doch heiterer aus.«
Ich zog, bevor ich mich zu Bett legte, die Vorhänge zurück und sah aus dem Fenster. Es ging auf den Rasenplatz vor der Haupteingangstür. Im Hintergrund rauschten zwei Baumgruppen und wiegten sich im Nachtwind. Der Halbmond trat durch die Lücken der eilig ziehenden Wolken. In seinem kalten Licht sah ich hinter den Bäumen zackige Felsklippen und den langen niedrigen Bogen des melancholischen Meeres. Ich zog die Vorhänge wieder zu; dieser letzte Eindruck stimmte zu meinen bereits vorhandenen Gefühlen.
Und doch war es noch nicht der allerletzte Eindruck. Ich war ermüdet und konnte trotzdem nicht einschlafen; unruhig warf ich mich von einer Seite auf die andere und suchte den Schlaf, der nicht kommen wollte. In der Ferne schlug jede Viertelstunde eine Glocke, sonst lag Totenstille über dem Haus. Dann plötzlich, in dem tiefen Grabesschweigen der Nacht, klang ein Laut an mein Ohr – ein heller, deutlicher, unverkennbarer Ton. Es war das Weinen einer Frau, das unterdrückte, halberstickte Schluchzen einer Frau, die von Schmerz und Kummer gequält wird. Ich setzte mich im Bett aufrecht und horchte mit gespannter Aufmerksamkeit. Das Geräusch konnte nicht weitab gewesen sein; ganz gewiss kam es aus dem Haus selbst. Eine halbe Stunde lang wartete ich mit Anspannung aller meiner Nerven, aber kein anderer Ton ließ sich hören als das Schlagen der Glocke und das Rascheln des Nachtwindes im Efeu draußen an der Wand.
S IEBENTES K APITEL
Der schöne frische Morgen des nächsten Tages trug sein Teil dazu bei, den trübseligen ersten Eindruck von Baskerville Hall etwas zu verwischen. Als Sir Henry und ich am Frühstückstisch saßen, flutete das Sonnenlicht durch die hohen Bogenfenster herein und warf bunte Farbenflecke von den Wappen, womit die Scheiben bemalt waren, auf Diele und Wände. Das dunkle Holzgetäfel glühte in den goldenen Strahlen wie Bronze, und wir konnten uns kaum vorstellen, dass wir in demselben Zimmer saßen, welches am Abend vorher unsere Seelen so trübe gestimmt hatte.
»Mich dünkt, wir selber haben die Schuld daran gehabt und nicht das Haus!«, rief der Baronet. »Wir waren ermüdet von der Reise und kalt von der langen Wagenfahrt, deshalb kam uns das Haus so grau vor. Jetzt sind wir frisch und munter, und auch das Haus sieht wieder ganz heiter aus!«
»Und doch kam nicht bloß unsere Einbildungskraft ins Spiel«, antwortete ich. »Haben Sie nicht zum Beispiel jemanden – ich glaube, es war eine Frau – während der Nacht schluchzen gehört?«
»Das ist sonderbar, was Sie da sagen! Es kam mir nämlich, als ich halb eingeschlafen war, vor, als hörte ich so etwas. Ich wartete ziemlich lange, aber es ließ sich nichts mehr hören, und ich nahm daher an, es wäre nur ein Traum gewesen.«
»Ich hörte es ganz genau und bin sicher, dass es in der Tat das Schluchzen eines Weibes war.«
»Wir müssen uns sofort danach erkundigen!« Er klingelte und fragte Barrymore, ob er uns über unsere Wahrnehmung Aufschluss geben könnte. Es kam mir so vor, als ob die bleichen Züge des Kammerdieners noch um eine Schattierung blasser würden, als er die Frage seines Herrn vernahm.
»Es sind nur zwei weibliche Personen im Haus, Sir Henry«, antwortete er. »Die eine ist die Hausmagd, die im vorderen Flügel schläft; die andere ist meine Frau, und ich weiß bestimmt, dass die Töne unmöglich von ihr herrühren.«
Seine Worte waren indessen eine Lüge. Denn zufällig begegnete ich nach dem Frühstück Mrs Barrymore in dem langen Korridor, wo ihr das Sonnenlicht voll ins Gesicht fiel. Sie war eine großgewachsene Frau mit einem Ausdruck von Gleichgültigkeit auf ihren grobgeschnittenen Zügen und einem festgeschlossenen, ernsten Mund. Aber ihre Augen waren verräterisch, sie waren rot und sahen mich aus geschwollenen Lidern an. Also war sie es gewesen, die in der Nacht geweint hatte; und wenn dies der Fall war, musste ihr Mann es wissen. Trotzdem hatte er es gewagt, eine so leicht zu entdeckende Lüge zu sagen. Warum? Und warum hatte sie so bitterlich geweint? Schon umschwebte diesen hübschen, blassen, schwarzbärtigen Mann eine geheimnisvolle Atmosphäre. Er hatte zuerst Sir Charles’ Leichnam entdeckt; nur auf seiner Aussage beruhte unsere Kenntnis von den Umständen, die mit dem Tod des alten Herrn in Verbindung standen. War es schließlich doch vielleicht Barrymore, den wir in der Regent Street in der Droschke
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