Sherlock Holmes und die Theatermorde
sich an ihn wenden müssen.«
»Es geht um Jonathan McCarthy.«
Dem Schriftsteller traten einen Moment lang die träumerischen Augen aus dem Kopf. »McCarthy? Dann hat er sich trotz allem unterstanden« – seine dicken Lippen schlossen sich mit einer Mischung von Ärger und Entschlossenheit.
»Er hat sich nichts unterstanden, Mr. Wilde. Jonathan McCarthy liegt zu dieser Stunde tot in seiner Wohnung; er ist das Opfer einer Gewalttat mit tödlichem Ausgang, die von einem oder mehreren unbekannten Tätern begangen wurde – wenige Stunden nach seinem Treffen mit Ihnen im Café Royal. Ich glaube wirklich, wir sollten dieses Gespräch woanders weiterführen«, schloß Holmes in gedämpftem Ton.
»Ermordet?« Es bedurfte einiger Sekunden, bis Bacchus die Bedeutung des Wortes in sich aufgenommen hatte. In diesem Augenblick erkannte ich, wie zutreffend Shaws Bemerkungen waren. Wilde mochte die Gesellschaft provozieren und allen Konventionen trotzen, aber er meinte es nicht ernst und empfand es nicht als schädlich. Unter all der sorgfältig genährten Dekadenz und den unsittlichen, perversen Ideen verbarg sich ein Mann von vollendeter Unschuld, den der Gedanke an einen Mord weit mehr schockierte als mich – und ich hielt mich im Vergleich zu ihm für ausnehmend konventionell.
»Kommen Sie hier entlang«, forderte er uns, nach Fassung ringend, auf und führte uns unsicheren Schrittes in das anliegende Schreibzimmer. Es war ein älterer Herr zugegen, aber sein Hut war über die Augen gezogen, seine Beine waren ausgestreckt, und es stand fest, daß wir niemals erreichen würden, was den geräuschvollen Lustbarkeiten im Nebenzimmer nicht gelungen war. Holmes und ich setzten uns, Wilde ließ sich heftig auf ein Sofa gegenüber fallen. Er gab keine seiner öffentlichen Darstellungen, sondern saß, die fetten Hände zwischen den Knien, wie ein Kutscher auf dem Bock, der müde ein Paar nicht vorhandene Zügel hält.
»Ich nehme an, daß man mich verdächtigt?« begann er.
»Dr. Watson und ich vertreten nicht die Polizei. Auf wen diese ihren Verdacht lenkt, ist uns nicht bekannt, obwohl ich aus Erfahrung sagen kann« – Holmes lächelte –, »daß sie gelegentlich seltsame Richtungen einschlägt. Können Sie Rechenschaft darüber ablegen, wo Sie sich nach Ihrem Treffen mit Jonathan McCarthy aufgehalten haben?«
»Rechenschaft ablegen?«
»Es mag sich – für die Polizei – als hilfreich erweisen, ein Alibi zur Verfügung zu haben«, erklärte ich.
»Ein Alibi, ah so.« Er lehnte sich zurück und produzierte etwas, das als Lächeln durchgehen mochte. Wieder erhaschte ich einen Blick auf sein Gesicht, und ich mußte an Cassius’ ›des Lebens überdrüssig‹ denken. Trotz einer vorwiegend humorvollen und heiteren Veranlagung trug dieser Mann an einer drückenden Bürde.
»Ja, das ist in Ordnung«, versicherte er mit nicht ganz überzeugender Munterkeit. »Ich war bei Rechtsanwalt Humphreys. Sagen Sie mir, wie wurde die Sache arrangiert?«
»Wie bitte?«
»Der Mord, mein Bester, der Mord!« Seine Augen glänzten, er begann sich für das Thema zu erwärmen. »Wurde Weihrauch verbrannt? Fanden Sie die Fußabdrücke einer nackten Frau, die in seinem Blut getanzt hat?«
Holmes ignorierte diese makabren Fantasien und umriß kurz die Umstände, die den Tod des Kritikers begleitet hatten, wobei er das Buch unerwähnt ließ und statt dessen darauf einging, daß niemand, mit dem wir soweit gesprochen hatten, überrascht oder betrübt über die Nachricht zu sein schien.
Wilde zuckte die Achseln. »Ich kann mir in der Tat nicht vorstellen, daß das West End sein Ableben als großen Verlust empfinden wird.«
»Was war der Anlaß Ihrer gestrigen Verabredung mit ihm?«
»Muß ich Ihnen das sagen?«
»Es ist uns nicht möglich, Aussagen zu erzwingen«, antwortete Holmes, »aber für die Polizei gelten andere Regeln. Sie weiß zur Zeit nichts von Ihrer Zusammenkunft mit dem Ermordeten.«
Wildes Augen blitzten hoffnungsvoll, und er richtete sich auf.
»Ist das wahr?« rief er und preßte die Hände zusammen. »Ist das wirklich wahr?« Holmes versicherte ihm, daß es stimmte. »Dann kann noch alles gut werden!« Er blickte uns beide abwechselnd an, und seine Begeisterung nahm ab, als ihm einfiel, daß er sich immer noch mit uns auseinanderzusetzen hatte. »Besser Sie als die Polizei, verstehe ich das richtig?« seufzte er. »Wie sehr das Leben doch manchmal an Sardou erinnert, finden Sie nicht auch? Was für ein Jammer!
Weitere Kostenlose Bücher