Sherry Thomas
dachte er nicht einmal an die Erfüllung
seiner leidenschaftlichen Träume, sondern an einen harmlosen Vorwand, mit dem
er sie davon abhalten konnte, ihn jetzt bereits zu verlassen.
Nur leider ließ ihn seine
Geistesgegenwart im Stich. Ihm fiel einfach nichts ein. Trotzdem schaffte er es
nicht, ihre Hand freizugeben.
Gigi schwankte zwischen Hoffen und
Bangen. Bis eben gerade noch hatten sie sich beide ausgesprochen höflich und
genau nach den gesellschaftlichen Spielregeln verhalten, doch nun musste er
sich gleich entweder entschuldigen oder sie küssen.
Aber weder das eine noch das andere
geschah. Stattdessen trat Lord Tremaine einen Schritt zurück, legte den Kopf
schräg und grinste leicht bedauernd. »Das war ziemlich unbeholfen von mir,
nicht wahr?«
Und mehr sagte er nicht dazu. Kein
Wort der Erklärung, keine Verlegenheitsgesten, nichts.
Nahezu bewundernd schaute sie zu ihm
auf. Dieser Mann kannte sich offensichtlich mit kompromittierenden Situationen
aus. Damit hatte sie gar nicht gerechnet. Er überging die kleine Szene so
ungerührt, dass es zwar beeindruckend, aber auch ein wenig erschreckend war.
Vielleicht flirtete er ja wirklich nur etwas mit ihr, und sie war nicht mehr
als eine willkommene Zerstreuung für ihn, während er hier über die Feiertage
auf dem Land ausharren musste.
»Wenn Sie es selbst sagen,
Mylord«, erklärte sie.
»Es wäre besser, Sie würden mein
Pferd nehmen«, schlug er vor.
Sie schaute ihn so schockiert an,
als hätte er gerade in Anwesenheit ihrer Mutter erklärt, dass er ihr unter den
Rock zu greifen gedachte.
Bisher hatte er immer Rücksicht
genommen wegen ihrer Angst vor Pferden, indem er den Hengst ganz langsam an
der Leine führte und ihn dann weit entfernt von Gigi festmachte. Doch jetzt
schien er ihre Furcht vollkommen vergessen zu haben. Ihr Herz begann zu
klopfen. Trotz all seiner zur Schau gestellten Kühle war er in Wahrheit offenbar
genauso durcheinander wie sie – vielleicht sogar noch mehr.
»Ich reite nicht«, erinnerte
sie ihn.
Er holte tief Luft, weil er
offensichtlich verlegen war, wenn er das ihr gegenüber auch niemals zugegeben
hätte.
»Warum eigentlich?”, fragte
Tremaine, nun wieder ganz gefasst. »Ihre Mutter wird doch kaum vergessen haben,
Ihnen Reitunterricht geben zu lassen.«
»Hat sie nicht. Ich habe selbst
entschieden, dass ich nicht mehr reiten will«.
»Und verraten Sie mir, weshalb?
Eigentlich sind Sie doch eine Frau, der Reiten Spaß machen müsste. Es vermittelt
einem ein ungeheures Gefühl von Freiheit.«
Ganz recht, es hatte ihr auch einmal
viel Vergnügen bereitet, sie hatte es sogar richtig geliebt. Bis sie zum zweiten
Mal heruntergefallen war und sich dabei drei Rippen und den rechten Arm
gebrochen hatte. »Ich habe Angst vor Pferden.«
»Aber wieso denn nur? Pferde sind
weit weniger gefährliche und viel vernünftigere Kreaturen als die gewöhnliche
Dowager Duchess. Und wie ich höre, lassen Sie sich von denen nicht
einschüchtern.«
Es fiel ihm leicht, sie mit seiner
sanften, aber bestimmten Art und seinem anscheinend wirklich aufrichtigen Interesse
an ihr zu Geständnissen zu bewegen. Ihm ging es dabei tatsächlich um sie und
nicht um ihr Geld, denn das hatte sie ihm ja bereits angeboten. Nein, es war
wirklich sie, die gemeint war.
»Ich bin zwei Mal heruntergefallen
und habe mir dabei sehr wehgetan.«
Doch er schüttelte nur den Kopf.
»Sie wären wieder rauf aufs Pferd, bevor der Doktor Ihnen überhaupt erlaubt hätte,
das Bett zu verlassen. Was ist wirklich passiert?«
Das ging ihn nicht das Geringste an.
Jedenfalls nicht, solange er behauptete, in eine andere Frau verliebt zu sein.
Genau das wollte sie ihm eigentlich gerade mitteilen, als sie sich sagen
hörte: »Ein Heiratsschwindler ist daran schuld. Er war wütend auf meine Mutter,
weil sie ihn nicht an sich heranließ, und das hat er an mir ausgelassen. Mit
dem bisschen Geld, das er besaß, hat er unseren Stallknecht bestochen.«
Und nachdem ihr beim ersten Sturz
nichts passiert war – sie hatte das Pferd zufälligerweise gerade in Schritt
fallen lassen, als der Sattelgurt riss –, versuchte er es noch einmal. »Ich
hatte Glück. Die Ärzte meinten, ich hätte mir ebenso gut die Wirbelsäule
brechen und dann für den Rest meines Lebens nicht mehr laufen können. So
verbrachte ich nur zwei Monate im Bett.«
Henry Hyde, der Gigi nach dem Leben
getrachtet hatte, wurde zwei Tage später wegen eines anderen Verbrechens
festgenommen. Offenbar brauchte er so
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