Shiver - Meine Rache Wird Euch Treffen
erst nach dem Tod meiner Mutter geheiratet.«
»Erinnern Sie sich an Courtneys Eltern?«, fragte Montoya. Abby schüttelte den Kopf. »Virginia … Simmons, sagten Sie, hieß die Mutter?«
Montoya nickte. »Ja.«
»Nein.« Sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte sich kein Bild von einer Ms. Simmons vor ihr inneres Auge rufen, doch dafür wimmelte es in ihrem Kopf von Zerrbildern der Anstaltsärzte. Sie erinnerte sich an einen großen, hageren Mann mit gestutztem Bart und starken Brillengläsern, die seine Augen vergrößerten. Er stand stets mit leicht vorgebeugten Schultern da, und bei seinem Anblick musste Abby an eine Gottesanbeterin denken.
»Aber Dr. LaBelle, ich glaube … Kann sein, dass er meine Mutter mal behandelt hat.« Abby schloss sekundenlang die Augen, nagte an ihrer Unterlippe und versuchte, sich an die Zeit vor der Tragödie zu erinnern, als sie und ihr Vater und Zoey ihre Mutter regelmäßig im Krankenhaus besucht hatten. Sie dachte an den Brunnen mit den Engeln, daran, dass sie sich etwas wünschen durfte, als sie die leuchtend bunten Fische zwischen den dichten Seerosen schwimmen sah. Libellen surrten über den Wasserspiegel des Teichs. Ochsenfrösche quakten, Eichhörnchen schimpften die alte gescheckte Katze aus, die auf dem Grundstück umherstreifte. Ältere Menschen saßen in Rollstühlen auf breiten Veranden oder im Schatten bunter Sonnenschirme oder unter den duftenden Zweigen großer, knorriger Magnolienbäume.
Auch Personal war da gewesen, Krankenschwestern in gestärkten Uniformen und Ärzte, deren weiße Kittel im leichten Wind flatterten. Sie hatten das Stethoskop um den Hals gehängt und Ungeduld im Blick, bis sie Abby oder Zoey oder ihren Vater bemerkten. Dann wich diese Ungeduld einem breiten Lächeln und Händeschütteln und Worten der Ermutigung.
»Es geht ihr gut … ja, nun … ein Zwischenfall … Sie nimmt die neuen Medikamente gut an … dürfte nicht mehr langedauern … uns stehen verschiedene Verfahren zur Wahl … immer wieder neue Behandlungsmöglichkeiten …«
Vor ihrem inneren Auge sah sich Abby selbst als Kind, das zu der breiten Eingangsveranda mit den Terrakotta-Kübeln voller rosafarbener und weißer Petunien und gelber Schwarzäugiger Susannen hinaufging. Wespen und Hornissen summten unter den Giebeln, Stimmen wehten über die breiten gepflegten Rasenflächen.
Abby entsann sich, wie sich die riesige Tür öffnete und den Blick auf gähnende Düsternis im Inneren freigab. Dort änderte sich alles. Schon als kleines Kind hatte Abby, wenn sie den Fuß über die Schwelle setzte, Angst empfunden, da die Geräusche von draußen verstummten und das Sonnenlicht nur spärlich durch Fenster mit dichten Jalousien oder das Bleiglas auf dem Treppenabsatz eindrang. Sie hatte gespürt, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
Die gedämpften Worte, der Singsang der Gebete, die leisen, aber unüberhörbaren Seufzer und Schreie waren durch lange, enge Korridore mit dunklen Walnusspaneelen und jägergrünen Tapeten gekrochen. Die Gerüche von Urin, Erbrochenem und menschlichem Verfall waren überdeckt worden von Desinfektions-, Bleich- und Reinigungsmitteln, doch Abby hatte die Ausdünstungen trotzdem wahrgenommen.
Dieser Arzt, der ihre Mutter behandelte … Er hieß anders, nicht LaBelle. Wie lautete sein Name? Holman? Hellman? Nein, Heller! Sie spürte einen unangenehmen Geschmack im Mund, wenn sie an ihn dachte, doch sie erinnerte sich kaum an etwas Konkretes. Abby dachte angestrengt nach. LaBelle?
Und dann überfiel sie die Erinnerung. Ihr Inneres verkrampfte sich schlagartig. Dr. LaBelle, der die Treppe heruntereilte, Abby ansah und den Blick hastig wieder abwandte.Der ein Papier unterschrieb, auf einem Klemmbrett, ihrer Vermutung nach eine Patientenkarte. Dann hob er den Blick und sprach mit ihrem Vater. Er wirkte ungeduldig, als wären Jacques’ Fragen unerträglich dumm oder läppisch oder reine Zeitverschwendung. Dr. LaBelle hatte sich stets mit einer Aura der Überlegenheit umgeben und bediente sich des aufgesetzten Tonfalls eines Menschen, der immer und immer wieder die gleichen Fragen beantworten muss. Er machte den Eindruck, viel zu beschäftigt zu sein, um sich mit der Familie einer Patientin befassen zu können. Als wären Jacques und seine beiden Töchter eine Zumutung, eine zusätzliche Arbeit, die ihm aufgebürdet wurde.
Jetzt öffnete Abby die Augen wieder.
»Ja … jetzt erinnere ich mich an ihn«, sagte sie und innerlich wurde ihr
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