Shutter Island
ließ den sanften, verschwollenen Blick auf Teddy ruhen.
Teddy konnte Dolores spüren, sie drückte gegen seinen Adamsapfel. Er sah sie in der Dämmerung des frühen Juli sitzen, in dem orangeroten Licht, in dem Städte sommers kurz nach Sonnenuntergang glühen. Sie blickt auf, als er am Bordstein hält. Die Kinder spielen wieder mitten auf der Straße Stickball, über ihnen flattert Wäsche. Das Kinn in die Hand gestützt, die Zigarette in Höhe des Ohres, sieht sie ihm entgegen, und er hat ihr ein einziges Mal Blumen mitgebracht, sie ist schlicht und einfach die Liebe seines Lebens, sein Mädchen, die ihm entgegensieht, als wolle sie sich ihn einprägen, seinen Gang, die Blumen, den Augenblick, und er will sie fragen, mit welchem Geräusch ein Herz aus Liebe zerspringt, wenn allein der Anblick eines Menschen einen so erfüllt, wie es Nahrung, Blut und Luft nicht vermögen, wenn man sich fühlt, als sei man nur für einen einzigen Augenblick geboren, und aus irgendeinem Grund war dieser Moment jetzt gekommen.
Lass sie in Ruhe, hatte Noyce gesagt.
»Ich kann nicht«, erwiderte Teddy mit gebrochener, hoher Stimme. In seiner Brust stieg ein Schrei auf.
Noyce lehnte sich, so weit er konnte, zurück, ohne die Gitterstäbe loszulassen. Er neigte den Kopf zur Seite und drückte das Ohr auf die Schulter.
»Dann wirst du diese Insel nie wieder verlassen.«
Teddy sagte nichts.
Und Noyce seufzte, als langweilte ihn das, was er nun sagen würde, so sehr, dass er dabei im Stehen einschlief. »Er wurde auf Station C verlegt. Wenn er nicht auf Station A ist, gibt es nur noch einen Ort, wo er sein kann.«
Er wartete, dass Teddy verstand.
»Der Leuchtturm«, sagte Teddy.
Noyce nickte, und das letzte Streichholz erlosch.
Eine geschlagene Minute stand Teddy im Dunkeln, dann hörte er die Bettfedern quietschen. Noyce legte sich hin.
Teddy machte sich auf.
»He!«
Teddy blieb stehen, den Rücken zur Tür, und wartete.
»Gott steh dir bei.«
16
TEDDY WOLLTE DURCH den Zellenblock zurückgehen. Da stand plötzlich Al vor ihm, mitten im Gang, und schaute Teddy müde an. Teddy fragte: »Hast du deinen Typ gekriegt?«
Al schloss sich Teddy an. »Na, klar. Schwer zu fassen, der Kerl, aber hier kann man nicht ewig weiterlaufen, irgendwann ist Schluss.«
Sie gingen den Zellenblock entlang, hielten sich in der Mitte, und Teddy dachte wieder an Noyce’ Frage, ob er hier jemals allein gewesen sei. Wie lange, fragte Teddy sich, mochte Al ihn beobachtet haben? Teddy ging die vergangenen drei Tage durch, suchte nach einem Augenblick, in dem er völlig allein gewesen war. Selbst wenn er zur Toilette ging, benutzte er die allgemeinen sanitären Einrichtungen, und hinter der Trennwand oder vor der Tür wartete der Nächste.
Aber nein, er war mit Chuck mehrmals allein auf der Insel spazieren gewesen …
Mit Chuck.
Was genau wusste er über Chuck? Kurz stellte er sich Chucks Gesicht vor, sah ihn auf der Fähre stehen und aufs Meer schauen …
Ein toller Kerl, auf Anhieb sympathisch, ging ungezwungen mit Menschen um, ein Typ, zu dem man sich gerne gesellte. Kam aus Seattle. Vor kurzem versetzt. Sagenhafter Pokerspieler. Hasste seinen Vater – das einzige, was nicht zu ihm passte. Da war noch was, das nicht stimmte, es war ganz tief in Teddys Kopf vergraben, irgendwas … was war es nur gewesen?
Ungelenk. Das war das richtige Wort. Aber nein, Chuck war alles andere als ungelenk. Er war die Gewandtheit in Person. Er fiel immer auf die Füße, um eine beliebte Redewendung von Teddys Vater zu benutzen. Nein, der Mann war nicht im entferntesten ungelenk. Oder vielleicht doch? Hatte es nicht einen kurzen Augenblick gegeben, in dem Chucks Bewegungen unbeholfen gewesen waren? Doch. Teddy war überzeugt, dass es diesen Moment gegeben hatte. Aber er konnte sich an nichts Genaues erinnern. Nicht jetzt. Nicht hier.
Die Vorstellung an sich war schon albern. Er vertraute Chuck. Schließlich war Chuck in Cawleys Schreibtisch eingebrochen.
Hast du das mit eigenen Augen gesehen?
Gerade in diesem Moment setzte Chuck seine berufliche Zukunft aufs Spiel, um an Laeddis’ Akte zu kommen.
Bist du da ganz sicher?
Sie standen vor der Tür. Al sagte: »Geh einfach wieder durchs Treppenhaus nach oben. Kommst du automatisch aufs Dach.«
»Danke.«
Teddy verharrte mit der Hand auf dem Türknauf, weil er sehen wollte, wie lange Al warten würde.
Aber Al nickte ihm lediglich zu und ging in den Zellenblock zurück. Teddy fühlte sich bestätigt.
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