Siddharta
dunkler Eulenruf.
Als der Tag begann, bat Siddhartha seinen Gastgeber, den
Fährmann, ihn über den Fluß zu setzen. Der Fährmann setzte
ihn auf seinem Bambusfloß über den Fluß, rötlich schim-
merte im Morgenschein das breite Wasser.
»Das ist ein schöner Fluß«, sagte er zu seinem Begleiter.
»Ja«, sagte der Fährmann, »ein sehr schöner Fluß, ich liebe
ihn über alles. Oft habe ich ihm zugehört, oft in seine Augen
gesehen, und immer habe ich von ihm gelernt. Man kann viel
von einem Flusse lernen.«
»Ich danke dir, mein Wohltäter«, sprach Siddhartha, da er
ans andere Ufer stieg. »Kein Gastgeschenk habe ich dir zu geben, Lieber, und keinen Lohn zu geben. Ein Heimatloser bin ich,
ein Brahmanensohn und Samana.«
»Ich sah es wohl«, sprach der Fährmann, »und ich habe keinen
Lohn von dir erwartet, und kein Gastgeschenk. Du wirst mir
das Geschenk ein anderes Mal geben.« »Glaubst du?« sagte
Siddhartha lustig. »Gewiß. Auch das habe ich vom Flusse
gelernt: alles kommt wieder! Auch du, Samana, wirst
wiederkommen. Nun lebe wohl! Möge deine Freundschaft
mein Lohn sein. Mögest du meiner gedenken, wenn du den
Göttern opferst.« Lächelnd schieden sie voneinander. Lächelnd
freute sich Siddhartha über die Freundschaft und
Freundlichkeit des Fährmanns. »Wie Govinda ist er«, dachte er
lächelnd, »alle, die ich auf meinem Wege antreffe, sind wie
Govinda. Alle sind dankbar, obwohl sie selbst Anspruch auf
Dank hätten. Alle sind unterwürfig, alle mögen gern Freund sein, gern gehorchen, wenig denken. Kinder sind die Menschen.«
Um die Mittagszeit kam er durch ein Dorf. Vor den Lehm-
hütten wälzten sich Kinder auf der Gasse, spielten mit Kür-
biskernen und Muscheln, schrien und balgten sich, flohen aber
alle scheu vor dem fremden Samana. Am Ende des Dorfes führte
der Weg durch einen Bach, und am Rande des Baches kniete ein
junges Weib und wusch Kleider. Als Siddhartha sie grüßte, hob
sie den Kopf und blickte mit Lächeln zu ihm auf, daß er das
Weiße in ihrem Auge blitzen sah. Er rief einen Segensspruch
hinüber, wie er unter Reisenden üblich ist, und fragte, wie
weit der Weg bis zur großen Stadt noch sei. Da stand sie auf
und trat zu ihm her, schön schimmerte ihr feuchter Mund im
jungen Gesicht. Sie tauschte Scherzreden mit ihm, fragte, ob er schon gegessen habe, und ob es wahr sei, daß die Samanas
nachts allein im Walde schliefen und keine Frauen bei sich
haben dürften. Dabei setzte sie ih-
ren linken Fuß auf seinen rechten und machte eine Bewe-
gung, wie die Frau sie macht, wenn sie den Mann zujener Art
des Liebesgenusses auffordert, welchen die Lehrbücher »das
Baumbesteigen« nennen. Siddhartha fühlte sein Blut erwar-
men, und da sein Traum ihm in diesem Augenblick wieder
einfiel, bückte er sich ein wenig zu dem Weibe herab und
küßte mit den Lippen die braune Spitze ihrer Brust. Auf-
schauend sah er ihr Gesicht voll Verlangen lächeln und die
verkleinerten Augen in Sehnsucht flehen.
Auch Siddhartha fühlte Sehnsucht und den Quell des Ge-
schlechts sich bewegen; da er aber noch nie ein Weib berührt
hatte, zögerte er einen Augenblick, während seine Hände
schon bereit waren, nach ihr zu greifen. Und in diesem
Augenblick hörte er, erschauernd, die Stimme seines Innern,
und die Stimme sagte nein. Da wich vom lächelnden Gesicht
der jungen Frau aller Zauber, er sah nichts mehr als den
feuchten Blick eines brünstigen Tierweibchens. Freundlich
streichelte er ihre Wange, wandte sich von ihr und ver-
schwand vor der Enttäuschten leichtfüßig in das Bambusge-
hölze.
An diesem Tage erreichte er vor Abend eine große Stadt, und
freute sich, denn er begehrte nach Menschen. Lange hatte er
in den Wäldern gelebt, und die stroherne Hütte des
Fährmanns, in welcher er diese Nacht geschlafen hatte, war
seit langer Zeit das erste Dach, das er über sich gehabt hatte.
Vor der Stadt, bei einem schönen umzäunten Haine, be-
gegnete dem Wandernden ein kleiner Troß von Dienern und
Dienerinnen, mit Körben beladen. Inmitten in einer ge-
schmückten Sänfte, von Vieren getragen, saß auf roten Kissen
unter einem bunten Sonnendach eine Frau, die Herrin.
Siddhartha blieb beim Eingang des Lusthaines stehen und sah
dem Aufzuge zu, sah die Diener, die Mägde, die Körbe, sah
die Sänfte, und sah in der Sänfte die Dame. Unter hochge-
türmten schwarzen Haaren sah er ein sehr helles, sehr zartes,
sehr kluges Gesicht, hellroten
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