Siddharta
wohlerprobte Reihe von Küssen stand, jeder
vom ändern verschieden, die ihn noch erwarteten. Tief at-
mend blieb er stehen, und war in diesem Augenblick wie ein
Kind erstaunt über die Fülle des Wissens und Lernenswerten,
die sich vor seinen Augen erschloß.
»Sehr schön sind deine Verse«, rief Kamala, »wenn ich
reich wäre, gäbe ich dir Goldstücke dafür. Aber schwer wird
es dir werden, mit Versen so viel Geld zu erwerben, wie du
brauchst. Denn du brauchst viel Geld, wenn du Kamalas
Freund sein willst.«
»Wie kannst du küssen, Kamala!« stammelte Siddhartha.
»Ja, das kann ich schon, darum fehlt es mir auch nicht an
Kleidern, Schuhen, Armbändern und allen schönen Dingen.
Aber was wird aus dir werden? Kannst du nichts als denken,
fasten, dichten?«
»Ich kann auch die Opferlieder«, sagte Siddhartha, »aber
ich will sie nicht mehr singen. Ich kann auch Zaubersprüche,
aber ich will sie nicht mehr sprechen. Ich habe die Schriften
gelesen—«
»Halt«, unterbrach ihn Kamala. »Du kannst lesen? Und
schreiben?«
»Gewiß kann ich das. Manche können das.«
»Die meisten können es nicht. Auch ich kann es nicht. Es
ist sehr gut, daß du lesen und schreiben kannst, sehr gut.
Auch die Zaubersprüche wirst du noch brauchen können.«
In diesem Augenblick kam eine Dienerin gelaufen und flü-
sterte der Herrin eine Nachricht ins Ohr.
»Ich bekomme Besuch«, rief Kamala. »Eile und ver-
schwinde, Siddhartha, niemand darf dich hier sehen, das
merke dir! Morgen sehe ich dich wieder.«
Der Magd aber befahl sie, dem frommen Brahmanen ein
weißes Obergewand zu geben. Ohne zu wissen, wie ihm ge-
schah, sah sich Siddhartha von der Magd hinweggezogen, auf
Umwegen in ein Gartenhaus gebracht, mit einem Oberkleid
beschenkt, ins Gebüsch geführt und dringlich ermahnt, sich
alsbald ungesehen aus dem Hain zu verlieren.
Zufrieden tat er, wie ihm geheißen war. Des Waldes ge-
wohnt, brachte er sich lautlos aus dem Hain und über die
Hecke. Zufrieden kehrte er in die Stadt zurück, das zusam-
mengerollte Kleid unterm Arm tragend. In einer Herberge,
wo Reisende einkehrten, stellte er sich an die Tür, bat
schweigend um Essen, nahm schweigend ein Stück Reisku-
chen an. Vielleicht schon morgen, dachte er, werde ich nie-
mand mehr um Essen bitten.
Stolz flammte plötzlich in ihm auf. Er war kein Samana
mehr, nicht mehr stand es ihm an zu betteln. Er gab den Reis-
kuchen einem Hunde und blieb ohne Speise.
»Einfach ist das Leben, das man in der Welt hier führt«,
dachte Siddhartha. »Es hat keine Schwierigkeiten. Schwer
war alles, mühsam und am Ende hoffnungslos, als ich noch
Samana war. Nun ist alles leicht, leicht wie der Unterricht im
Küssen, den mir Kamala gibt. Ich brauche Kleider und Geld,
sonst nichts, das sind kleine nahe Ziele, sie stören einem nicht den Schlaf.«
Längst hatte er das Stadthaus Kamalas erkundet, dort fand
er sich am ändern Tage ein.
»Es geht gut«, rief sie ihm entgegen. »Du wirst bei Kamas-
wami erwartet, er ist der reichste Kaufmann dieser Stadt.
Wenn du ihm gefällst, wird er dich in Dienst nehmen. Sei
klug, brauner Samana. Ich habe ihm durch andre von dir er-
zählen lassen. Sei freundlich gegen ihn, er ist sehr mächtig.
Aber sei nicht zu bescheiden! Ich will nicht, daß du sein Diener wirst, du sollst seinesgleichen werden, sonst bin ich nicht mit dir zufrieden. Kamaswami fängt an, alt und bequem zu
werden. Gefällst du ihm, so wird er dir viel anvertrauen.«
Siddhartha dankte ihr und lachte, und da sie erfuhr, er habe
gestern und heute nichts gegessen, ließ sie Brot und Früchte
bringen und bewirtete ihn.
»Du hast Glück gehabt«, sagte sie beim Abschied, »eine
Tür um die andre tut sich dir auf. Wie kommt das wohl? Hast
du einen Zauber?«
Siddhartha sagte: »Gestern erzählte ich dir, ich verstünde
zu denken, zu warten und zu fasten, du aber fandest, das sei
zu nichts nütze. Es ist aber zu vielem nütze, Kamala, du wirst
es sehen. Du wirst sehen, daß die dummen Samanas im
Walde viel Hübsches lernen und können, das ihr nicht könnt.
Vorgestern war ich noch ein struppiger Bettler, gestern habe
ich schon Kamala geküßt, und bald werde ich ein Kaufmann
sein und Geld haben und all diese Dinge, auf die du Wert
legst.«
»Nun ja«, gab sie zu. »Aber wie stünde es mit dir ohne
mich? Was wärest du, wenn Kamala dir nicht hülfe?«
»Liebe Kamala«, sagte Siddhartha und richtete sich hoch
auf, »als ich zu dir in
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