Sie kamen bis Konstantinopel
erneut. Schritte, ein Mann beugte sich über sie. Der Araber zog ein Messer, kappte den Riemen, riss Pelagia von dem Abgrund zurück. Er begann, sie den Hang emporzuzerren, zurück zum Weg.
»Nein«, schrie sie, »mein Gepäck!«
»Gib's verloren!«, keuchte ihr Retter.
»Nein, Urso, hilf!«, rief sie dem jungen Mann zu, der auf sie zu gestolpert kam. »Bitte, mein Reisesack!«
Ein neuer Blitz erleuchtete die Umgebung. Urso glitt mehr, als dass er kletterte, erreichte das Maultier. Es lag auf der Seite, die Augen in Panik verdreht, die Hufe dem Abgrund zugewandt. Pelagia sah, wie Urso seinen Dolch zückte. Er beugte sich über die festgeschnallte Last. Erneut krachte der Donner, mehrere entfernte Blitze tauchten die Berge in gespenstisch fahlen Schein. Das Maultier schlug mit den Hufen. Urso kniete, nestelte am Gepäck, dann versank alles in Dunkelheit. Pelagia wimmerte leise vor sich hin. Der Araber stützte sie, sagte etwas, das sie nicht verstand. Doch seine Stimme war beruhigend.
»Meine Reisetasche, ich brauche sie …«, stammelte Pelagia. Der Mann nickte, zeigte nach unten. Im Lichte eines Blitzes sah sie Urso halb aufgerichtet. In diesem Augenblick bewegte sich das Maultier heftiger. Sein Körper löste sich aus den Zweigen, glitt langsam über die Klippe. Mit hilflos nach oben gestreckten Hufen stürzte es in den Abgrund.
Pelagia wurde von Weinkrämpfen geschüttelt.
Plötzlich stand Urso neben ihr. »Hier … hier, ich habe es!«, stieß er hervor, hielt ihr etwas Unförmiges hin.
»Danke«, schluchzte Pelagia und riss ihren wassertriefenden Reisesack an sich. »Danke!«
Kurz darauf erreichten sie die verlassene Hütte. Während sich der Führer mühte, ein Feuer zu entzünden, hockte Pelagia zähneklappernd auf dem Boden, wie besessen ihren Besitz umklammernd. Um sie herum saßen die erschöpften Reisenden auf mit Ziegenkot vermengtem Stroh; wortkarg, die Gesichter von der Anstrengung gezeichnet. Später versuchten sie, aneinander gedrückt, etwas Schlaf zu finden, bevor sie am nächsten Morgen wieder aufbrechen mussten. Den Folgetag noch mühten sie sich, wenn auch bei schönem Wetter, über Bergpfade. Dann endlich hatten sie die Grenze hinter sich gelassen. Aufatmend stiegen sie zur Straße hinab. Dort bestand der Araber darauf, dass Pelagia auf seinem Maultier ritt, bis sie in einem Dorf ein neues kaufen konnten.
Die nächsten Wochen verliefen anstrengend, aber ohne besondere Vorkommnisse. In Ankyra verabschiedeten sie sich von der arabischen Familie, die besonders Pelagia ans Herz gewachsen war. Anschließend folgten sie der Straße nach Westen, bis sie Ende Oktober Nikomedia erreichten. Dort konnten sie sich glücklich schätzen, für einen Wucherpreis ein muffiges Zimmer zu bekommen, bei dessen Anblick Pelagia nur »Widerlich!« bemerkte. Doch alle Herbergen waren vom Keller bis zum Dach besetzt. Die ganze Stadt quoll über vor Flüchtlingen, die von den wilden Stämmen der Sklavinoi aus den europäischen Provinzen des Reiches vertrieben worden waren. Dazu gesellten sich die Verzweifelten, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, um sich in Booten von Rhodos und anderen Inseln zu retten, als diese von den Sarazenen erobert worden waren. Gerüchte schwirrten von Mund zu Mund, in den Kirchen predigten die Priester über das Ende der Welt, und es hieß, dass selbst Konstantinopel nicht mehr sicher sei. Angeblich plane der Stadtpräfekt, alle Einwohner ausweisen zu lassen, die nicht genug Geld besaßen, um sich mit Vorräten für ein halbes Jahr einzudecken. Sarazenische Piratenschiffe hätten sich bereits bis auf Sichtweite der Kaiserpaläste herangewagt, wo sie Fischerboote überfielen.
Am Abend saßen die drei in einer Schänke und starrten schweigend in ihre Weinbecher.
»Was nun?«, fragte Urso zuletzt. »Sollen wir es wagen? Oder lieber umkehren? Irgendwo an der Küste des Pontischen Meeres Zuflucht suchen? In Heraklea Pontika oder Sinope? Dort, so hört man, scheint es noch sicher zu sein …«
Kallinikos schüttelte mürrisch den Kopf. »Was soll ich in dieser Einöde, wo niemand baut? Da hätte ich auch in Baalbek bleiben können.«
Pelagia dachte an ihre geheimen Flottenpläne. »Wir müssen in die Kaiserstadt! Wenn die fällt, ist unsere Welt verloren. Dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Sarazenen auch woanders vor den Toren stehen.« Sie nahm Ursos Hand. »Lass es uns in Konstantinopel versuchen. Wir haben doch sicher genügend Gold dabei?« Dabei blickte sie die
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