'Sie können aber gut Deutsch'
Nationalhymne anstimmen würden, weil sie den deutschen Staat als Rechtsstaat in Frage stellen, sich dafür schämen, Deutsche zu sein, und dabei mit Argumenten um sich werfen, die außerhalb der »ultralinken« Kreise kaum jemand nachvollziehen kann. Warum machen diese Menschen der großen Mehrheit weniger Angst als diejenigen, die nun einmal in ihrer Kindheit eine andere Nationalhymne hörten und denen die deutsche deshalb fremd ist?
Die Angst lebt übrigens auf beiden Seiten, das muss man so deutlich sagen, auch wenn ich diese Form der Zweiteilung nicht mag. Aber Angst ist nun einmal meist die Angst vor etwas Fremdem, vor etwas, das (angeblich) anders ist, und damit vor einer anderen Seite. Auch als fremd abgestempelte Migranten haben Angst. Angst zum Beispiel davor, ihr eigenes Ich, ihre Herkunft, ihre Sitten und Gebräuche abgeben zu müssen. Abgeben im Sinne von: Meine Briefmarkensammlung musste ich in der Heimat zurücklassen, die Muscheln, die ich als Kind mit dem Großvater sammelte, den schönen, alten Esstisch, an dem all meine Kinder ihren ersten Brei gelöffelt haben, nun muss ich auch noch meine Identität abgeben. Meine Kultur, meine Bräuche, meine Muttersprache (immerhin enthält der Begriff das Wort Mutter!), mein früheres Ich. Ich muss jetzt deutsch werden, mich assimilieren, das, was ich kenne, aufgeben, um hier willkommen zu sein, und das ist ein Gedanke, der nicht nur Angst einflößend ist, sondern auch in gewisser Weise menschenverachtend. Dass man sein Selbst, sein Ich, all jenes, was man in den vielen (oder auch nicht so
vielen) Jahren seines Lebens aus Erfahrungen, Gerüchen, Traditionen, Eigenheiten, Charaktereigenschaften in sich gesammelt hat, was einen selbst letztendlich ausmacht, zu dem formt, der man ist, wenn man in den Spiegel blickt, abgeben muss. Dass all das keinerlei Respekt verdient, so wertlos ist, dass man es gedankenlos hinter sich lassen kann. Um jemand Neues – also ein Deutscher – zu werden. Ist das nicht absurd? Ist das nicht ein Science-Fiction-Film aus Hollywood, in dem es um in dreißig Jahren produzierte, perfekte Menschen geht, und wer nicht passt, wird aussortiert? Ein Science-Fiction-Film, den man schaut, weil er spannend ist und unterhaltsam, nicht realistisch?
Ich habe keine Angst vor dem Deutschsein, in welcher Form auch immer. Ich habe nun beinahe zwei Drittel meines Lebens hier verbracht, mein Deutsch ist weitaus besser als meine Muttersprache, bei Besuchen in Russland finde ich mich nicht immer zurecht, weil ich mit den deutschen Benimm-Codes, die ich mitbringe, immer wieder an Mauern und meine Grenzen stoße, wenn ich zum Beispiel zur Begrüßung förmlich die Hand gebe, anstatt die Menschen stürmisch zu umarmen. Und ich kann sagen: Dieser Gedanke macht mir Angst. Dass ich die – für mich umso bedeutenderen, weil inzwischen so kleinen – Reste meines russischen Ichs, die Kinderlieder, den Geschmack pappsüßer Geburtstagstorten auf der Zunge, den emotionalen Drang, Menschen zu sagen, was sie mir bedeuten, meine Sehnsucht nach Birkengeruch abgeben muss, um deutsch zu sein. Deutsch zu sein? Will ich das? Kann ich nicht deutsch-russisch sein oder russisch-deutsch oder sonst irgendeine Mischung sein? Also noch einmal umformuliert: Dass ich die Reste meines russischen Ichs abgeben muss, um mich in Deutschland zuhause zu fühlen.
Das macht nicht nur Angst. Das ist etwas, und darüber muss ich nicht nachdenken, ein Preis, den zu zahlen ich nicht bereit wäre.
Manchmal machen mir – und ich maße mir jetzt mal an zu sagen: uns, die wir Migranten genannt werden – auch Angst: einfach nur die Fragen. Die Fragen, die vielleicht gutgemeint sind, vielleicht sogar von Interesse geleitet, das eine oder andere Mal auch sicherlich von einem geheuchelten Interesse, die uns aber im Grunde das Gefühl vermitteln: Nein, du gehörst hier nicht dazu. Das glaubst du nur. Fragen wie: »Na, fährst du im Sommer wieder nachhause?« Und man denkt sich, wieso nachhause, nachhause fahre ich in zwei Stunden oder auch gleich, nachdem ich die Biere bezahlt habe, die wir gerade zusammen trinken. Und: Wo willst du mich denn hinschicken, bitte? In ein Land, das ich kaum kenne, in dem ich mich häufiger fremd fühle als in jedem anderen Land der Welt, wohl, weil ich den Anspruch nicht loswerde, ich müsste mich da auch ein wenig heimisch fühlen.
Auch Sätze wie: »Sie sprechen aber gut Deutsch!« können weh tun. Ein Bekannter von mir, der in Deutschland geboren wurde
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