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Titel: Sie sehen dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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übergab sich. Dann lief er zum Telefon und wählte Nashs Nummer.

34
    Zuerst vergewisserte Ron sich, dass weder Betsy noch die Zwillinge zu Hause waren. Dann ging er hinauf ins Zimmer seines toten Sohns.
    Davon sollte niemand etwas wissen.
    Ron lehnte sich an den Türrahmen. Er starrte aufs Bett, als könnte er so das Bildnis seines Sohns heraufbeschwören  – das würde er dann so lange und intensiv angucken, bis die Form schließlich feste Gestalt annahm und Spencer dort, wie er es immer
gern gemacht hatte, auf dem Rücken liegend, schweigend, mit einer kleinen Träne im Augenwinkel zur Decke blickte.
    Warum hatten sie nichts davon gemerkt?
    Wenn man zurückblickte, sah man natürlich, dass der Junge schon immer ein bisschen missmutig gewesen war  – immer ein bisschen zu traurig und zu ruhig. Sie hatten ihm keinen Stempel wie »manisch-depressiv« aufdrücken wollen. Schließlich war er noch ein Kind, und sie waren davon ausgegangen, dass er da rauswuchs. Aber im Nachhinein musste er doch feststellen, dass er sehr oft an der geschlossenen Zimmertür seines Sohns vorbeigekommen war, sie ohne zu klopfen geöffnet hatte  – verdammt, schließlich war es sein Haus, da brauchte er doch nicht zu klopfen!   – und gesehen hatte, wie Spencer reglos mit Tränen in den Augen auf dem Bett lag und die Decke anstarrte. Ron hatte dann gefragt: »Alles okay?«, und Spencer hatte geantwortet: »Ja klar, Dad«, worauf Ron die Tür wieder geschlossen hatte und die Sache für ihn erledigt war.
    Ein toller Vater.
    Er gab sich selbst die Schuld. Er gab sich daran die Schuld, dass er so viel im Verhalten seines Sohns übersehen hatte. Er gab sich daran die Schuld, dass er die Pillen und den Wodka da stehen lassen hatte, wo sein Sohn sie so problemlos erreichen konnte. Aber vor allem gab er sich daran die Schuld, was er gedacht hatte.
    Vielleicht war es die Midlife-Crisis gewesen. Aber das glaubte er eigentlich nicht. Das war ihm zu bequem, eine zu billige Ausrede. In Wahrheit hasste Ron sein Leben. Er hasste seinen Job. Er hasste es, wenn er nach Hause kam und die Kinder ihm nicht zuhörten, dazu der ewige Lärm, die ständigen Fahrten zum Baumarkt, um neue Glühbirnen zu kaufen, die Sorgen um die Gasrechnung, das Sparen für den Universitätsfond und … Herrgott noch mal, er wollte hier raus. Wie war er überhaupt in dieses Leben hineingeraten? Warum tappten so viele Männer in diese Falle?
Er wollte in einer Hütte im Wald leben, er war gerne allein, und das war auch schon alles. Er wollte sich einfach tief in den Wald zurückziehen, wo er keinen Handyempfang hatte, sich einfach eine Lichtung zwischen den Bäumen suchen, das Gesicht der Sonne zuwenden, und ihre Strahlen auf der Haut spüren.
    Also hatte er sich ein neues Leben gewünscht, sich danach gesehnt, diese Welt hinter sich zu lassen, und peng, Gott hatte seine Gebete erhört und seinen Sohn umgebracht.
    Ihm graute vor diesem Haus, diesem Sarg. Betsy würde hier niemals wegziehen. Zu den Zwillingen hatte er keine richtige Beziehung. Als Mann blieb man aus Pflichtbewusstsein, aber warum? Was soll das? Man opferte sein Glück für die vage Hoffnung, dass die nächste Generation dadurch glücklicher wurde. Aber gab es dafür irgendeine Garantie? Wenn ich unglücklich bleibe, werden meine Kinder dafür ein erfülltes Leben haben? Das war doch hanebüchener Schwachsinn. Oder hatte es bei Spencer etwa funktioniert?
    Seine Gedanken wanderten zurück zu den Tagen nach Spencers Tod. Er war hier ins Zimmer gekommen  – nicht um Spencers Sachen wegzupacken, sondern um sie durchzusehen. Es hatte ihm geholfen. Warum, wusste er selbst nicht. Irgendwie hatte er sich da hineingesteigert, als ob es jetzt noch etwas geändert hätte, wenn er seinen Sohn besser kennen lernte. Und dann war Betsy reingekommen und hatte einen Anfall gekriegt. Also hatte er aufgehört und kein Wort darüber gesagt, was er gefunden hatte  – und obwohl er sich weiter bemüht hatte, Betsy zu erreichen, obwohl er nach ihr gesucht, geforscht und sie gelockt hatte, blieb die Frau verschwunden, in die er sich einmal verliebt hatte. Vielleicht hatte sie sich schon vor langer Zeit verabschiedet  – das wusste er nicht mehr genau  –, aber spätestens mit Spencers Sarg war auch das letzte bisschen, was davon noch übrig gewesen war, begraben worden.
    Er erschrak, als er hörte, wie die Hintertür geöffnet wurde. Er
hatte keinen Wagen kommen hören. Er eilte zur Treppe und sah Betsy. Als er ihren

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