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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Traktor Probe durch einen Außenbezirk Moskaus fuhr. Der kleine Plejin studierte die Istwestija am Tisch, bekleidet mit einem tatarischen Seidenmantel, den ihm die Tscherskasskaja besorgt hatte. Iwanow hatte auf seiner Kremlbaustelle eine Pause eingelegt und bekam die Prawda von seinem Vorarbeiter, dem lieben Lumjanow, der bereits einen Streifen für eine Zigarette abgerissen hatte. Man weiß ja – die Prawda schmeckt am besten. Boranow saß in einer seiner gesäuberten Straßenbahnen und ließ sich zur Endhaltestelle VI fahren, als sein Blick auf die kleine Familienanzeige fiel. Sepkin, der die Anzeige sehnsüchtig erwartet hatte, war zufrieden, faltete die Zeitung zusammen und trug sie hinüber zu seinem neuen Freund Radolow. Bei einem Gläschen verdünnten medizinischen Alkohols feierten sie die neuen Siegesmeldungen der Roten Armee.
    An diesem Abend fing Milda Ifanowna in kurzen Abständen die Anwesenheitsmeldungen auf. Im Funkgerät zirpte jeweils nur eine Ziffer. Dann Stille. Und jedesmal antwortete Milda: 11. Da brauchte man keine Rückfragen mehr. 11 – das hieß: Morgen vormittag um 11 Uhr bei mir.
    Sie wartete bis spät in die Nacht, aber niemand meldete sich mehr. Nachdenklich saß sie im dunklen Zimmer, nur vom flackernden Licht einer Kerze umhüllt, und las die Ziffern. Sechs haben sich gemeldet … aber zehn waren es. Was war geschehen rund um Moskau oder in Moskau?
    Sie beugte sich vor, schaltete das Radio ein und drehte es leise. Ballettmusik aus ›Russlan und Ludmilla‹. Ein Rausch von Tönen. Milda legte den Kopf nach hinten und starrte an die Decke.
    Pawel Fedorowitsch Sassonow. Er hatte gerade einen Sohn bekommen. William-Heiko. Ein stiller tapferer Mensch. Er sollte Wildgänse befehlen.
    Iwan Petrowitsch Bunurian. Immer lustig, ein Optimist. Sein Blick konnte streicheln. Vielleicht, dachte sie, vielleicht wäre es mit ihm mehr geworden als nur ein Lächeln.
    Alexander Nikolajewitsch Kraskin. Der Musiker. Der Opernfreund. Zum Abschied in Eberswalde ließ er eine Platte abspielen. Ausschnitte aus ›La Boheme‹. Bei dem Duett Mimi - Rudolf vor der winterlichen Zollwache bekam er ganz große, glänzende Jungenaugen.
    Sergeij Andrejewitsch Tarski. Ein fröhlicher Bursche. Unbekümmert, die ganze Welt umarmend. Der Krieg war für ihn wie ein Abenteuer. Auch er hatte gesagt: »Milda, einen Begrüßungskuß werden Sie mir geben müssen, wenn ich in Moskau bin! Allein dieser Belohnung wegen schaffe ich es!«
    Wo waren sie? Was hatte Rußland mit ihnen gemacht?
    Sie verbrannte den Zettel mit den Ziffern, zerrieb die Asche zwischen den Handflächen und streute den Staub in einen Topf mit Geranien. Dann drehte sie das Radio laut und verkroch sich in die schallende Musik.
    Oberst Smolka war nach seinem Besuch bei General Radowskij nicht untätig geblieben. Er wartete nicht, bis aus dem inneren Kreis um Stalin Schutzmaßnahmen bekanntgegeben wurden – er fächerte seinen so lange verborgen gehaltenen und wie eine kostbare Geliebte gepflegten Plan auf und ließ seine Mitspieler nach Moskau kommen. Unter dem Schutz der Nacht betraten sie das große Gebäude in der Dschershinski-Straße. Smolka empfing sie persönlich unten an der Pforte, wo man die Nachtwache entfernt hatte. Ohne einem anderen Menschen zu begegnen, wurden die Männer in das vierte Stockwerk geführt, wo man drei Zimmer für sie ausgeräumt hatte. Diese Räume lagen am Ende des Flures, hinter dem Büro von Smolka, das seit einigen Stunden durch eine neue Zwischentür im Korridor von allen anderen Zimmern getrennt war. Nur mit einem Spezialschlüssel konnte man den abgesperrten Flurteil betreten, und einen Schlüssel besaß nur Oberst Smolka selbst.
    Die neuen Mitarbeiter begutachteten die Zimmer und fanden sie scheußlich, denn wenn man aus einem Büroraum ein Schlaf- und Wohnzimmer macht, kommt selten etwas Gemütliches heraus. Trotzdem waren sie bester Laune, lachten viel, am meisten über sich, betrachteten sich gegenseitig immer wieder und nannten sich Brüderchen. Oberst Smolka sorgte für Laune; er hatte aus dem Sonderfond mehrere Flaschen Wodka besorgt, dazu kalten Schweinebraten und dicke, eingelegte Gurken.
    Die neuen Mitarbeiter fanden diese erste Nacht sehr angenehm. Sie hatten sich untereinander erst jetzt beim NKWD kennengelernt und fühlten sich sofort wie eine große Familie. Smolka fühlte sich weniger wohl – er dachte mit Magendrücken an die nächsten Tage und an die Stunde, in der er Stalin gegenüberstehen würde und

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