Sie waren zehn
Sie, Igor Wladimirowitsch – ist da noch Raum für eine Warnung? Bei nächster Gelegenheit werde ich es nachholen. Im Stab ist jedenfalls schon alles unterrichtet. Wir werden Stalin abschirmen.«
»Haben Sie Zeit, Genosse General, heute nach dem Mittagessen zu mir zu kommen?« fragte Smolka freundlich.
»Ich kann kein Glas mehr sehen! Bloß das nicht!« Radowskij seufzte ergreifend.
»Ich möchte Ihnen etwas anderes anbieten.«
»Hat der NKWD einen geheimen Vorratskeller entdeckt?!« Radowskij hustete; man hatte auch unmäßig geraucht. »Wann hatten Sie gedacht, Smolka?«
»Gegen drei Uhr nachmittags, Genosse General?«
»Ich will es versuchen. Rechnen Sie aber nicht damit. Im Augenblick liege ich mit meinem Kopf in einem Ameisenhaufen. Igor Wladimirowitsch, ich flehe Sie an: Lassen Sie mich mit Ihren deutschen Offizieren wenigstens heute in Ruhe!«
Um drei Uhr, pünktlich, wie man es von einem General erwartet, fuhr Radowskij beim NKWD vor. Nie in seinem Leben war er ein ängstlicher Mensch gewesen, aber das breite, etwas düstere Gebäude mit der an klassische Linien erinnernden Fassade erzeugte auch bei ihm Beklemmung.
Namen fielen ihm ein, bekannte Persönlichkeiten, die dort unten in den Kellern ausgelöscht worden waren. Große Söhne Rußlands, die dieses Gebäude betreten, aber nie mehr verlassen hatten. Wer hat einmal gesagt: Wenn man alles Blut, das in diesem Haus geflossen ist, gesammelt hätte, müßten die Keller jetzt unter Blut stehen? Radowskij erinnerte sich nicht mehr an den Namen, aber er spürte trotz der sommerlichen Hitze, die über Moskau brütete, so etwas wie Kälte, als er das Gebäude betrat.
Er wurde erwartet. Ein Major empfing ihn, grüßte stramm und führte ihn zum Lift. Während der Fahrt mußte man Oberst Smolka alarmiert haben. Er erwartete Radowskij auf dem Vorplatz des Treppenhauses und lächelte. Radowskij gab ihm die Hand.
»Haben Sie ›Faust‹ im Theater gesehen?« fragte er.
Smolka nickte. »Mehrmals, Genosse General.«
»Als Faust den Pakt unterzeichnete, lächelte Mephisto genauso wie jetzt Sie!«
Smolka verzichtete darauf, sich mit Radowskij über den ›Faust‹ zu unterhalten, aber er registrierte mit Wohlgefallen, daß der General nervös war. Er ging voraus, schloß die neue Tür auf und ließ Radowskij in den gesperrten Teil eintreten. Dann schloß er hinter dem General sofort wieder ab.
»Was ist denn das?« fragte Radowskij sofort voller Mißtrauen. »Igor Wladimirowitsch, Sie igeln sich ein? Wem will man an die Hose – Stalin oder Ihnen?«
»Die Sicherungen haben mit Stalins Schutz zu tun«, sagte Smolka und stieß die Tür zu seinem Büro auf. Es duftete nach Zigaretten und parfümiertem Tee. Radowskij, der große Genießer des Kreml, roch es sofort.
»Lieber Freund«, sagte er, etwas befreiter, »Sie leben hier wie auf der Krim. Servieren Sie mir ein wunderhübsches Weibchen? Der NKWD ist berühmt für Überraschungen.«
Smolka bat Radowskij, sich zu setzen. Er zeigte auf einen Sessel, der einer Tür zum Nebenraum gegenüberstand, wartete, bis der General sich eine Zigarette angezündet und die Beine elegant, wie es seine Art war, übereinandergeschlagen hatte. Dann ging er zum Fenster, schloß es und zog die Gardine zu, als könne man von irgendwoher hineinsehen. Radowskij spitzte die Lippen.
»Igor Wladimirowitsch, Sie haben Theaterblut in sich. Man hat Sie bisher immer verkannt: Sie sollten im Bolschoi Regie führen. Was wird heute gespielt?«
»Stalins Überleben.«
»Ein schweres Stück!«
»Man muß es nur beherrschen.«
»Vorhang auf, mein Lieber!«
»Da wären noch einige Erklärungen, Genosse General.«
Radowskij winkte ab. »Wenn man ein Stück vorher erklären muß, ist es ein schlechtes Stück, Igor Wladimirowitsch!« sagte Radowskij. »Der Vorhang muß aufgleiten, und sofort muß man miterleben.«
»Wie Sie wünschen.« Oberst Smolka ging langsam zur Tür.
»Beschweren Sie sich aber nachher nicht, daß ich Sie über die Maßen erschreckt habe.«
»Sie werden schon keinen Drachen loslassen!« lachte Radowskij. Smolka blieb ernst.
»Das kommt auf die persönliche Einstellung an«, sagte er schlicht. Er drückte die Klinke, stieß die Tür zum Nebenraum auf und nickte. Dann trat er zur Seite, gab den Weg frei und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand.
Ein Mann trat ein.
Radowskij, der gerade rufen wollte: »Schon faul, Smolka. Mit einem Ballett müssen Sie eröffnen!« starrte den Eintretenden entgeistert an,
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