Sie waren zehn
leichtesten hatte es Nikolai Antonowitsch Plejin, der kleine Dallburg. Als bekannt wurde, daß er Sänger sei, rief man sofort: »Los, Brüderchen, gib einen zum besten! In den Waschraum mit dir! Und dann singe etwas Schönes für uns arme Seelen.«
Nikolai Antonowitsch sträubte sich nicht. Welcher Russe ziert sich, wenn er eine gute Stimme besitzt, am Abend ein Liedchen oder mehr zu singen? Vor allem in der Fremde und gar in der Gefangenschaft, mit wenig Aussicht, bald die Wälder und Sonnenblumenfelder, die Steppen und breiten Flüsse wiederzusehen. Oh, ihr Lieben, noch einmal im Buschgras liegen, am Ufer des Don. Dann ist das Rauschen des Stromes wie das mächtige Klopfen des Blutes, und wenn du ganz still liegst, hörst du die Haselmäuse zirpen und piepsen, das Land duftet, die Erde atmet dich an, und du liegst, blickst in den weiten Himmel, zählst die Wolken und weißt, daß es nur ein Glück auf dieser Welt gibt: Rußland.
»Komm, Nikolai Antonowitsch, sing uns von Rußland. Laß die Blumenglocken läuten, die Donner rollen, den Wind brausen, die Wasser rauschen! Stell dich auf den Waschtrog, Brüderchen, halte dich an den Wasserrohren fest und singe!«
Und Nikolai Antonowitsch sang. Seine helle Stimme füllte den Waschraum, lockte die Offiziere aus anderen Baracken an. Bald standen sie draußen auf der Lagergasse und lauschten andachtsvoll; die Fenster, die Türen waren geöffnet. Nikolai Antonowitsch sang das Lied vom sibirischen Reiter, das Lied von der Kornblume und die Ballade vom Mädchen, das Mais in den Himmel warf, bis Sterne daraus wurden.
Als Plejin seinen Vortrag beendet hatte, klatschte niemand. Stumm gingen sie auseinander, gesenkten Kopfes, jeder in seine Baracke, in seine Stube. Manchen standen die Tränen in den Augen, rannen über die Wangen, sammelten sich in den Falten des Gesichtes.
»Man müßte ihn erschlagen«, sagte jemand mit bebender Stimme. »Genossen, das ist nicht ernst gemeint … aber wenn er weiter so singt, zerfrißt mich das Heimweh. Ich kann nichts dafür, Brüder … Und wenn sie mir ganze Schweine braten und Pilze in Sahne servieren würden – ich ging zu Fuß bis nach Saratow, wenn sie mich nur ließen. Auf allen vieren krieche ich hin …«
An diesem Abend bekam Plejin die dreifache Portion an Essen. Er konnte so viel nehmen, wie er wollte … jeder gab etwas ab. »Iß nur, Genosse! Das tut der Stimme gut. Oh, wie hast du gesungen! Wie ein Vögelchen im Birkenbaum. Greif zu, Brüderchen. Brot und Margarine. Und schütte dir Zucker in den Tee. Ist kein echter Tee, nur Ersatz, irgendwelche deutschen Blätter – aber mit Zucker kann man ihn trinken. Zier dich nicht, wir geben es dir gern! Es freut uns, wenn es dir schmeckt!« Und Plejin aß, stopfte sich randvoll, bis er rülpste, was wohlwollend angehört wurde, lag dann auf seinem hölzernen Bett mit der harten Seegrasmatratze, verschränkte die Arme hinter dem Nacken und dachte vor sich hin.
Fünf Tage war es erst her. Gabrielles weicher, zarter, sehniger, wilder Körper. Ihre glühenden Augen, die spitzen Brüste, der kleine Mund, der manchmal mit einem irren, hohen Schrei aufbrechen konnte … Ihre gezwitscherten Worte, ihr sonnenhelles Lachen, ihre so kindlich gebliebene Fröhlichkeit. Und dazu das rauschende Meer … Der Wind trieb den weißgelben Sand über die Dünen, und die Lippen waren salzig, wenn man darüber leckte oder sie küßte.
Vor fünf Tagen … Und heute ist man Russe. Nikolai Antonowitsch Plejin. Den Fähnrich Dallburg gibt es nicht mehr. Nie mehr. Und nie mehr Gabrielle und ihr seufzendes ›chérie‹ … Man liegt im Sarg und merkt es gar nicht.
»Woran denkst du, Nikoschka?« fragte der Mann neben ihm.
»An meine Mutter, Genosse. Sie wird weinen, Tag und Nacht. Für sie bin ich tot.«
»Geht uns allen so. Um so größer wird die Freude sein, wenn wir zurückkommen.«
»Du glaubst, daß du Rußland wiedersiehst?«
»Nur dafür lebe ich, Nikolai Antonowitsch.«
Plejin, der einmal der kleine Dallburg war, drehte das Gesicht zur Wand.
Er wird Rußland wiedersehen, dachte er. Ich aber Deutschland nicht.
Zum erstenmal, in dieser Nacht, lahmte sein Herzschlag. Die Ausweglosigkeit seines Schicksals verdickte sein Blut, verstopfte die Lungen und machte das Atmen schwer.
Er war erst zwanzig Jahre …
Nach drei Tagen wurden die zehn wieder aus dem Lager abgezogen. Die russische Lagerleitung erfuhr es schon früher, vier Stunden bevor der Lastwagen wieder in den Lagerbereich einfuhr.
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