Siebenschön
machte einen Schritt um den Tisch herum und deutete mit ihrem behandschuhten Zeigefinger auf mehrere charakteristische Vernarbungen in der linken Armbeuge.
»Sie war ein Junkie?«, fragte Capelli erstaunt.
»Exjunkie«, nickte die Pathologin. »Ich habe mir ihre Krankenakte angesehen. Von ihrem fünfzehnten Lebensjahr an hat sie so ziemlich alles konsumiert, was der Markt hergibt. Heroin, Koks, Crack, Pilze. Um ihre Sucht zu finanzieren, ging sie anschaffen. Und dabei scheint sie nicht immer … Na ja, sagen wir: Sie ist nicht immer besonders sanft angefasst worden.«
Zhous Augen glitten hinunter zu Lina Wöllners Schambein, und sie überlegte, ob Dr. Bechstein den letzten Schluss wohl allein aus der Akte oder vielleicht doch auch aus den Obduktionsbefunden gezogen hatte.
»Mit neunzehn wurde sie wegen fahrlässiger Tötung verhaftet«, fuhr die Pathologin fort, »aber es wurde nie Anklage erhoben.«
»Fahrlässige Tötung?« Capelli zog die Augenbrauen hoch, und auch Zhou hob überrascht den Kopf. »Und wer war das Opfer? Ein Freier?«
»Nein, ihre Mutter.« Dr. Bechstein lachte, als sie die Gesichter der beiden Kommissarinnen sah. »Selbige war Frührentnerin und schwer herzkrank, weshalb sie mehrmals täglich, vor allem nachts, ein spezielles Spray benötigte.« Ihre behandschuhten Finger ließen von Lina Wöllners Arm ab. »Das Zeug standimmer griffbereit auf dem Nachtschrank, nur in der besagten Nacht war es nicht da.«
»Und wo war es stattdessen?«, fragte Zhou.
»Verschwunden.« Die Pathologin zuckte die Achseln. »Eine Mitarbeiterin des zuständigen Pflegedienstes sagte aus, Lina Wöllner habe ihre Mutter an dem bewussten Abend besucht, und sie gab auch an, Zeugin eines heftigen Streits zwischen den beiden Frauen gewesen zu sein. Eine Aussage, der die zuständigen Behörden immerhin so viel Bedeutung beimaßen, dass sie Lina Wöllner in Gewahrsam nahmen.«
»Und warum wurde sie nicht angeklagt?«, fragte Zhou, während ihre Augen zu den vernarbten Einstichen in der Armbeuge der Toten zurückkehrten.
»Interessant, nicht?«, entgegnete die Pathologin. »Es gab ein psychologisches Gutachten zu ihrer Befindlichkeit, das nicht gerade positiv ausfiel. Und das, obwohl Frau Wöllner sich offenbar sehr schnell zu einem Entzug bereit erklärte. Aber wie das so ist … Anscheinend fehlten den Ermittlern am Ende doch die Beweise.«
Zhou beobachtete, wie sich Capellis Gesicht bei diesen Worten kurz umwölkte, und sie überlegte, ob ihre Partnerin wohl an etwas ganz Bestimmtes dachte. Doch der Eindruck verschwand so schnell, wie er gekommen war.
»Und dann?«
»Lina Wöllner erbte rund 100 000 Euro«, antwortete Dr. Bechstein, »und als sie die durchgebracht hatte, landete sie wieder auf dem Strich. Aber sie hatte Glück.« Sie griff nach einem Klemmbrett, das einer ihrer Mitarbeiter ihr entgegenhielt, und kritzelte ihre Unterschrift unter ein Formular. »Einer ihrer Freier half ihr, clean zu werden. Sie schaffte den Absprung, lernte ihren jetzigen Mann kennen, heiratete ihn und bekam kurz hintereinander zwei gesunde Kinder.«
»Na, das klingt ja fast wie im Märchen«, bemerkte Capelli sarkastisch.
Dr. Bechstein grinste. »Abgesehen von der Tatsache, dass LinaWöllner nur wenige Jahre später mit einem stumpfen Schädeltrauma in der Pathologie gelandet ist, würde ich Ihnen durchaus recht geben.«
»Was wurde eigentlich aus diesem Freier?«, fragte Zhou.
»Aus welchem?«, fragte Dr. Bechstein.
»Dem, der Lina Wöllner den Ausstieg ermöglicht hat.«
»Keine Ahnung.«
»Sagen Sie Gehling, dass er sich darum kümmern soll«, entschied Capelli.
Zhou nickte, sah jedoch davon ab, gleich an Ort und Stelle zum Handy zu greifen. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass ihre Partnerin sich über ihren Eifer ärgerte, ohne dass sie ihre Einschätzung an etwas Konkretem hätte festmachen können.
Dr. Bechsteins Igelaugen streiften ihr Gesicht und verweilten dann einen Hauch länger bei Capelli. Sie schien amüsiert zu sein. »Der mutmaßliche Todeszeitpunkt stimmt übrigens mit den Angaben überein, die Sie uns gemacht haben.«
»Laut Brief hat er Lina Wöllner am 6. November getötet«, nickte Capelli.
»Das kommt hin«, entgegnete die Pathologin. »Todesursächlich war, wie schon gesagt, ein massives Schädel-Hirn-Trauma. Die Ränder der Frakturen entsprechen denen des Spatens, der am Tatort gefunden wurde. Außerdem hat das Labor nahezu überall an der Schaufel Blutspuren des Opfers
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