Sieg der Leidenschaft
wachsende Angst. Fröstelnd ließ sie ihren Blick über das Lager wandern. Zur Rechten stand ein großes Zelt, wahrscheinlich ein Offiziersquartier, neben einem schmalen Bach, der in den Fluss mündete. An der Rückseite wurde es von hohen Bäumen abgeschirmt.
Als ein Mann aus dem Zelt trat, beschleunigte sich Tias Puls. Groß, dunkelhaarig, imposant. Sie sah nur seinen Rücken. Obwohl er kein Jackett trug - nur ein ausgebleichtes Musselinhemd und eine Hose von der Unionskavallerie -, bezweifelte sie nicht, dass er ein Offizier war. Das verriet ihr seine selbstsichere Haltung.
Vor einem Lagerfeuer, in einiger Entfernung von seinem Zelt, blieb er stehen und sprach mit einem rotblonden jungen Soldaten, dessen Antwort Tia verstand, weil sein Gesicht in ihre Richtung gewandt war. »Ja, Sir, alles klar. Wenn der Spähtrupp zurückkehrt, erkläre ich Captain Ayers, er würde Sie bei Colonel Bryer finden. Oder er soll hier im Camp auf Sie warten. Jedenfalls möchten Sie ihn noch heute Abend sehen.«
Während der Offizier weiterging, hörte Tia auf der anderen Seite des Flusses Zweige knacken. Offensichtlich hatten ihre Verfolger das Ufer erreicht. Sie stieg ab und führte Blaze direkt hinter das große Zelt des Offiziers. Dann schlug sie auf die Kruppe der Stute und flüsterte: »Lauf davon, Mädchen!« Inständig hoffte sie, das Pferd würde in der Nähe bleiben, zwischen dichten Bäumen, und sich nicht an das Camp heranwagen. Es wäre schrecklich, wenn ein Yankee ihre geliebte Stute stehlen würde. »Geh jetzt!« Erleichtert beobachtete sie, wie Blaze nach ein paar Schritten saftige Grasbüschel zwischen den Kiefern entdeckte und stehen blieb. Sie wandte sich wieder zu dem großen Zelt. An der Rückseite konnte sie sicher unbemerkt hineinkriechen. Vielleicht würde sie etwas zum Anziehen finden. Danach wollte sie zu Blaze schleichen und sich verstecken, bis die Yankees ihre Suche nach Godiva aufgaben.
Und wenn der Offizier in sein Zelt zurückkehrte? Wohl kaum. Soeben hatte er seinem Sergeant mitgeteilt, er würde einen Colonel aufsuchen.
Lautlos rannte sie über das weiche Gras zum Zelt und kroch unterhalb der Segeltuchplane hinein. Drinnen richtete sie sich fröstelnd auf. Die Abendluft hatte sich abgekühlt und Tia war immer noch triefnass. Wie ein kalter, feuchter Umhang hing ihr langes Haar über den Schultern. Sie brauchte unbedingt eine Decke.
Zitternd schaute sie sich im Zelt um, das sehr gemütlich eingerichtet war. Sogar ein Teppich lag auf dem Erdboden. Neben einem zusammenklappbaren Schreibtisch, auf dem eine Landkarte lag, stand ein großes Feldbett. Ein Offiziersjackett hing über einem Klappstuhl. Ein Standspiegel, zwei Truhen und ein kleinerer Tisch, auf dem sich Bücher stapelten, vervollständigten die Einrichtung. Über einer der Truhen lag ein gefaltetes weißes Baumwollhemd.
Alles in diesem Zelt wirkte gepflegt und ordentlich und trug den Stempel einer ausgeprägten Persönlichkeit. Insbesondere die Bücher - militärische und medizinische Werke, auch ein paar Romane. Was für ein Mensch mochte der große, dunkelhaarige Offizier sein, der hier wohnte? Ein Yankee. Ein Feind.
Das Wort >Feind< benutzte man am besten nur, wenn sich kein Gesicht damit verband. Ihr Bruder Ian war ein >Feind< mit einem geliebten Gesicht. Wieder einmal verabscheute Tia den Krieg aus tiefster Seele.
Doch sie durfte keine Zeit mit solchen Überlegungen verschwenden. Entschlossen ging sie zu der Truhe, über der das weiße Hemd lag, hob den Deckel und nahm eine Hose heraus. Eine warme Wollhose von der Navy.
Als sie ein Geräusch hörte, rannte sie erschrocken zur Zeltklappe und spähte hindurch. Nur der rotblonde Sergeant schien in der Nähe des Zeltes Wache zu halten. Die übrigen Soldaten beschäftigten sich anderswo. Niemand hatte den Eindringling entdeckt. Hastig schlüpfte Tia aus ihrem nassen Korsett und der Unterhose. Dann griff sie nach dem weißen Hemd - und erstarrte mitten in der Bewegung.
Irgendwie wusste sie, dass sie nicht mehr allein war. Kein Geräusch. Nur ein schwacher Luftzug aus der Richtung der Zeltklappe. Völlig lautlos hatte sich jemand genähert. Und sie kehrte ihm den Rücken.
Plötzlich klickte der Abzug einer Waffe. »Wer sind Sie? Und was tun Sie hier?«
Da ihr nichts anderes übrig blieb, drehte sie sich um. Entsetzt starrte sie den Mann an, der einen sechsschüssigen Colt auf ihre Brust richtete.
Taylor Douglas. Hoch gewachsen, dunkelhaarig, imposant. Der Offizier, den sie vorhin
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