Silberband 101 - Eiswind der Zeit
mit der ganzen Hand. Er ging zu der Akonin, hielt ihr die geschlossene Faust hin, schaute zur Seite und öffnete die Hand.
»Ist das der bewusste Kristall?«, fragte er.
Es war Taktik, nichts als Taktik. Insgeheim hoffte der alte Prospektor, Pedar von Margulien würde annehmen, er, Pyon, hätte seine letzte Aussage überhört oder nicht begriffen. Wenn Pedar von Margulien nämlich tatsächlich einige Male ›Pech gehabt‹ haben sollte, dann musste er tot sein. Es sei denn, er war an harmlose Fallen geraten – oder er war kein Mensch, sondern ein Wesen, das sich regenerieren konnte, auch wenn es von einer Falle zerstückelt worden war. Ein Molekülverformer!
Nchr bemerkte seinen Fehler sofort. Doch anstatt ihn anzugreifen, überspielte der alte Mann seine Erkenntnis, indem er Ilma dem Anblick des grünen Kristalls aussetzte. Wie hatte er ihn genannt? Illusionskristall.
Ein Milchstraßen-MV hätte wahrscheinlich von diesen seltsamen Kristallen gewusst und sich entsprechend verhalten. Pedar von Margulien hingegen hatte noch nichts von Illusionskristallen gehört; ihm fehlte in der Hinsicht jede Information. In diesem speziellen Fall war der Gys-Voolbeerah sogar froh darüber, denn mit dem betreffenden Wissen hätte er Ilma den Kristall nicht gegeben und wäre folglich nie mit ihr in die Unterwelt des Planeten gelangt.
Als Nchr merkte, dass ›seine‹ Nichte in Trance fiel, sagte er: »Wir müssen uns dicht hinter ihr halten und jede ihrer Bewegungen nachahmen, auch scheinbar sinnlose!«
Arzachena nickte. »Ja, das stimmt mit dem überein, was ich über Illusionskristalle gehört und gelesen habe, Akone.«
Ilma von Rohan ergriff den Kristall mit spitzen Fingern und setzte sich in Bewegung.
Der Gys-Voolbeerah merkte erst, dass die Bäume sich verändert hatten, als Ilma an einem Baumstamm aufwärts ging und er unwillkürlich nach oben schaute, um zu sehen, wohin die Akonin gehen wollte. Da bemerkte er, dass die Äste und Zweige sich in ein stilisiertes Baumkronenmuster aus blauweißen Überschlagsblitzen verwandelt hatten.
Noch stärker beunruhigte ihn die Tatsache, dass die Akonin auf die Entladungen zuging. Aber es war keine Zeit für Überlegungen. Der Gys-Voolbeerah sah, dass Pyon Arzachena ohne zu zögern ebenfalls den Baum hinaufging – und er folgte dem Prospektor.
Als Ilma sich zwischen den Blitzen auflöste, bedauerte der Molekülverformer, dass er keine Möglichkeit hatte, Ytter über Funk zu informieren, dass er, Nchr, sein Leben verlieren würde und niemand die Zeit mit einer fruchtlosen Suche nach ihm oder seinen Überresten vertun sollte.
Der alte Prospektor verschwand ebenfalls zwischen den Blitzen, und der Gys-Voolbeerah begriff allmählich, dass dieses Verschwinden nicht gleichbedeutend mit dem Tod sein musste.
Sekunden später folgte Nchr der Akonin und dem alten Mann. Er spürte das sanfte Ziehen, mit dem ein Transmittersprung eingeleitet wurde.
Nchr fand sich in einem dunklen Raum voll dumpfer Gerüche wieder. Aber da waren auch die vertrauten Duftmuster von Ilma und Arzachena, und zugleich leuchtete eine Handlampe auf. Sie ließ das Innere eines offenbar seit Jahrzehnten nicht benutzten Pavillons erkennen.
Arzachena richtete den Lichtkegel auf eine leere Türöffnung und eine massive Steinplatte, die von außen gegen die Öffnung gelehnt war. »Das sieht nach Arbeit aus«, stellte er fest. »Fassen Sie mal mit an, Mister von Margulien?«
Der Gys-Voolbeerah nickte. Gemeinsam mit dem Prospektor stemmte er sich gegen die Platte. Sie ließ sich nicht sofort bewegen, und Nchr schätzte, dass der richtige Pedar von Margulien hier eingesperrt gewesen wäre.
Doch er war nicht der Akone, und er setzte vorübergehend seine volle physische Kraft ein. Die Platte kippte nach außen, schlug krachend auf und polterte einen Hang hinab.
Pyon Arzachena wischte sich die Hände an seinem Schutzanzug ab und schaltete die vor seiner Brust hängende Lampe aus, denn von draußen fiel helles Tageslicht in den Pavillon.
Sie traten ins Freie hinaus. Vor ihnen erstreckte sich die Silhouette der Stadt Trade City, die von der Morgensonne angestrahlt wurde. Als die drei Personen sich umschauten, entdeckten sie über sich eines der archaisch gestalteten Außenwerke des Kaiserpalasts. Folglich musste der Palast weiter oben liegen, nur ihren Blicken noch entzogen.
Von dem Außenwerk löste sich eine große schillernde Energieblase.
»Dort kommt unser Taxi, Mister Arzachena«, sagte Nchr. »Aber sollten wir
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