Silberlicht
stand. Das hätte mir seltsam vorkommen müssen, doch meine Vorfreude auf James verdrängte alles andere aus meinen Gedanken.
»Woher hast du den Anstecker?«, fragte Cathy, während wir zur Schule fuhren.
»Aus dem Englischunterricht.«
»Du hast doch gar kein Englisch dieses Semester«, bemerkte Cathy.
»Ein Freund hat ihn mir gegeben.« Schützend legte ich meinen Arm über den Button, als hätte ich Angst, dass Cathy ihn von meiner Tasche reißen und nach Fingerabdrücken untersuchen würde.
»Warum trägst du nicht den Anstecker, den Grandma dir geschickt hat?«, fragte Cathy. »
What would Jesus do?
– Was würde Jesus tun?«
WWJD . Das bedeuteten die Buchstaben also. »Das hier ist Dickens«, beruhigte ich sie. »Akademisch.«
»Nicht alles Akademische ist auch moralisch«, sagte Cathy.
Das schien mir eine sehr beunruhigende Sicht auf das Leben zu sein. Ihre Vorbehalte Literatur gegenüber ärgerten mich, doch ich sagte nichts.
Als wir an der Schule angekommen waren, löste ich so schnell wie möglich den Sicherheitsgurt.
»Benimm dich«, sagte Cathy warnend, als ich ausstieg.
»Gott segne uns alle!«, erwiderte ich und winkte ihr zum Abschied zu. Bei dem Gedanken, dass ich sie heute wieder anlügen würde, hatte ich nicht die geringsten Schuldgefühle.
Auf dem Weg ins Klassenzimmer bückte ich mich nach einer Penny-Münze auf dem Boden. Als ich mich aufrichtete, wurde mir schwarz vor Augen, und ich fühlte mich wie unter Wasser.
Das Nächste, was ich weiß, ist, dass mir ein Hausmeister und ein Lehrer, den ich nicht kannte, auf die Füße halfen. Nachdem ich ihnen versichert hatte, dass ich die Schulkrankenschwester nicht aufsuchen musste, hängte ich mir meine Tasche über die Schulter und verschwand in der Menge. Den Penny ließ ich liegen und verpasste so die Gelegenheit, mir etwas zu wünschen.
Im Laufe des Tages wanderten meine Gedanken immer wieder zu Dan. Das Klappmesser, das er in seine Tasche gepackt hatte, war nicht neu gewesen, sondern abgenutzt, die Elfenbeineinlagen zerkratzt und braun vom Alter. Der Packen Briefe, den er dazugelegt hatte, wurde von einem Band zusammengehalten, und das gerahmte Schwarzweißfoto zeigte ihn als kleinen Jungen, wie er einen selbst gefangenen Fisch in die Höhe hielt. Nicht gerade das, was man für eine Geschäftsreise einpackt. So etwas nahm man mit, wenn man wusste, dass das Haus abbrennen würde.
Ich kannte die halben Tage aus meiner Zeit mit Mr. Brown, jede Unterrichtsstunde war nur dreißig Minuten lang. Der erste Unterrichtsblock zog sich dennoch unendlich in die Länge, und ich war viel zu unruhig, um an einem Pult zu sitzen. Statt in die restlichen Kurse zu gehen, streifte ich über das Schulgelände. Sobald ich etwas sah, von dem ich dachte, dass es Jenny gefallen könnte, schaltete ich die Kamera ein, wie ich es bei Mr. Brown gesehen hatte, und machte ein Foto: ein Blatt an einem Fenster, ein Eichhörnchen, das neben einem Schild »Rasen betreten verboten« saß. Graue Geister sprangen aus dem Apparat und materialisierten sich zu Bildern.
Dann sah ich, wie Mr. Brown über den Hof ging und sich mit einem Schüler unterhielt. Seine Tasche war bis obenhin vollgestopft, er musste also seinen Roman dabeihaben. Seit der Nacht, in der ich ihn wegen James verlassen hatte, war mir der besorgte Zug um seine Augen aufgefallen. Doch heute wirkte er wieder ganz wie er selbst. Ich beobachtete ihn aus der Entfernung und wartete, bis er sich von dem Schüler verabschiedet hatte. Dann drückte ich auf den Auslöser. Ich sah, wie das Bild auf dem glatten Papier Gestalt annahm – ein gestohlener Moment aus Mr. Browns Leben. Er winkte lächelnd über die Schulter zurück, die weiße Wand des Verwaltungsgebäudes hinter ihm wirkte wie eine grundierte Leinwand. Ich legte das Bild in meine Tasche, sicher verwahrt zwischen zwei meiner Bücher.
Während des Unterrichts versteckte ich mich auf der Mädchentoilette. In der Zeit zwischen den Stunden, in der die Schüler die Klassenzimmer wechselten, schoss ich noch einige Schwarzweißfotos und legte sie zu dem Porträt von Mr. Brown. Um 11 : 30 Uhr war der Schultag fast vorbei, und die Schüler sollten sich in der Aula versammeln. Langsam schob ich mich durch die Menge, zusammen mit meinen Klassenkameraden, die sich übermütig schubsten und der nahenden Freiheit entgegenfieberten.
Ich hatte gerade die dämmrige Aula betreten, als mich eine Hand am Handgelenk fasste und in die hinterste
Weitere Kostenlose Bücher