Silbernes Band (German Edition)
schaltete seinen PC ein und liess sich mit einem theatralischen Stöhnen in den ledernen Drehsessel fallen. Sein Blick aus der obersten Etage eines modernen Stadthauses fiel direkt auf die Themse, die bereits wieder in Nebel gehüllt war an diesem Spätnachmittag Ende November. Verdammt, wie er diesen Papierkram hasste! Er war zuständig für die Koordination und Abrechnung der Lieferungen sämtlicher Blutbanken in Europa. Ausserdem war er verantwortlich für die Überprüfung neuer Verträge. Die Sache mit dem Spenderblut boomte, viele Unsterbliche schworen der regelmässigen Jagd auf Menschen ab. Es war so bequem, sicher und einfach, wenn man sein tägliches Blut nach Hause geliefert bekam.
Mit einem tiefen Seufzer startete er die Applikation und nahm den ersten Lieferschein zur Hand, um die verschlüsselten Daten im Computer einzugeben.
In seinem früheren Leben war George Herr über eine stattliche Baumwollplantage in South Carolina gewesen. Schon im Kindesalter besass er seinen eigenen Sklaven, hatte mit Zwanzig geheiratet und drei Jahre später, nach dem Tod seines Vaters, die Führung der Plantage übernommen. Mit Einunddreissig war er Vater von acht ehelichen Kindern und zahlreichen Bastarden, wie er sie nannte, die er mit seinen Sklavinnen gezeugt hatte.
Eines Nachts, im Jahr 1723, änderte sich sein Leben drastisch. George war spätabends zu den Sklavenquartieren geritten, um seiner damaligen Lieblings-Sklavin einen Besuch abzustatten. Auf dem Heimweg dachte er darüber nach, auch noch seine Ehefrau zu beglücken, als unvermittelt sein Pferd scheute. Er wurde unsanft aus dem Sattel geschleudert und fand sich in den starken Armen eines eiskalten Mannes wieder. „Ich gebe dir ein neues Leben, mein Sohn.“ Dies waren Richards Worte, bevor er George seine Zähne in den Hals schlug, sein Blut trank und ihn anschliessend verwandelte. Sein Schöpfer nahm ihn mit in den Norden, nach Plymouth. Richard war im Jahr 1620 mit der legendären Mayflower in die Neue Welt gelangt und war als einer der „Pilgerväter“ an der Gründung Plymouths beteiligt gewesen. Nur mit Hilfe der Eingeborenen überlebten die Siedler den ersten Winter.
Richard war in den folgenden Jahren eifrig bemüht, die sogenannten „Wilden“ zum Glauben zu bekehren. Bis er eines Tages an den Falschen geriet. Der charismatische Wilde bekehrte ihn – zur Unsterblichkeit. Richard lebte viele Jahre lang an der Seite seines Schöpfers. Seiner puritanischen Lebensanschauung blieb er auch als Unsterblicher weitgehend treu. Er lebte in Demut und Askese und jagte grundsätzlich nur Ungläubige. Nachdem er selbst zum Schöpfer geworden war, versuchte er diese Grundsätze an George weiterzugeben. Ein reichlich schwieriges Unterfangen, denn George hatte keine Lust, seinen ausschweifenden Lebensstil einfach aufzugeben. Mit seinem Schicksal hätte er sich ganz gut arrangieren können, bloss nicht auf diese Weise. George strebte nach Völlerei und Masslosigkeit – und nach Macht. Doch Richards strenger Führung war nicht so leicht zu entkommen.
In den Wirren des Unabhängigkeitskrieges lernten sie zwei europäische Unsterbliche kennen. Gabriel und Daniele bereisten gemeinsam die Neue Welt und nutzten dabei die Möglichkeit, sich nach Ende einer Schlacht an den Verwundeten gütlich zu tun. Eine beliebte Methode, um ohne grosses Risiko seinen Durst zu stillen.
George war fasziniert von der Lebensweise dieser beiden Unsterblichen. Sie waren gleichberechtigte Gefährten – und vor allem wussten sie sich zu amüsieren! Richard konnte dieser Dekadenz natürlich nichts abgewinnen und sorgte dafür, dass sein Geschöpf sich von ihnen fernhielt. George träumte fortan von einem unbeschwerten Leben in der Alten Welt, der ursprünglichen Heimat aller Unsterblichen.
Im Jahr 1825 entschied er, dass es genug sei. Es gelang ihm zu entkommen, er reiste nach New York und verschaffte sich Zutritt zu einem Schiff, das ihn nach Europa brachte. George ging in Southampton von Bord und traf schon sehr bald auf einen Unsterblichen namens Fionn, der damals an der englischen Südküste lebte. Fionn wies ihn freundlich, aber bestimmt darauf hin, dass er sich beim Vorsitzenden der Europäischen Gesellschaft der Unsterblichen vorstellen musste. Wie sich herausstellte, war dieser Vorsitzende eben jener Gabriel! Gemeinsam mit Daniele und Fionn bildete er den Rat der Europäischen Gesellschaft der Unsterblichen. George konnte sein Glück kaum fassen. Er entschied, in der
Weitere Kostenlose Bücher