Silbernes Band (German Edition)
prüfte er die Umgebung, damit niemand ihre Ankunft beobachten konnte. Um diese Uhrzeit war zum Glück auch hier nicht viel los. Die Strasse und seine Häuser lagen im Tiefschlaf. In Edwards Wohnung brannte längst kein Licht mehr. Aus seinem Schlafzimmer hörte man regelmässiges Herzpochen und leises Schnarchen.
„Die Luft ist rein. Bleib sitzen, ich helfe dir“, wies Fionn seinen Sohn an. Er zog ihn behutsam vom Beifahrersitz und stützte ihn über den Gehsteig und die Stufen hinauf zur Haustür. Die bebende Rúna wurde ganz einfach wieder aus dem Wagen gehoben und ins Haus getragen. Für Morten wog sie nicht mehr als ein halbes Pfund Butter, weshalb er sie auch im Aufzug nicht absetzte. Heiðar war im Moment zu sehr mit seinen eigenen Schmerzen beschäftigt, um etwas dagegen zu haben. Er beschränkte sich darauf, ganz sachte ihre aufgeschrammte Hand festzuhalten, bis sie oben angekommen waren.
Morten brachte Rúna ins Schlafzimmer, legte sie aufs Bett und zog ihr den zweiten Schuh aus. Fionn half Heiðar, die restlichen Kleider auszuziehen, dann ging er ins Bad, um einen feuchten Waschlappen zu holen. „Zeig her, ich möchte das Blut abwaschen.“ Heiðar hatte keine Kraft, sich gegen die Fürsorge zu wehren, und liess zu, dass sein Vater gewissenhaft über Brust, Rücken und Unterarm strich, bis alle Spuren getilgt waren. Dabei passte er auf, die weissen Verbände auf keinen Fall nass zu machen. „Ich bringe dir ein Glas Blut.“ Fionn verschwand in Richtung Küche. Im Handumdrehen war er zurück und hielt ihm ein grosses Glas erwärmtes A Positiv unter die Nase. „Nicht, wenn Rúna dabei zusieht.“ Fionn blieb unerbittlich: „Ich diskutiere nicht mit dir. Du brauchst es, um den Blutverlust auszugleichen und damit deine Verletzungen schneller heilen.“ Heiðar gehorchte seufzend und öffnete den Mund, damit Fionn ihm das Blut schluckweise verabreichen konnte. Rúna kriegte es nur am Rande mit, es spielte keine Rolle. Hauptsache Heiðar war bei ihr, Hauptsache er lebte.
„Ich muss deine nassen Sachen ausziehen. Erlaubst du?“ Morten fasste nach dem zerrissenen Saum des Strickkleids und zog ihr das schmutzige Teil über den Kopf. Die kühlen Hände versuchten, sie dabei möglichst nicht zu berühren. Sie hörte ein warnendes Knurren. Morten liess sich nicht provozieren, erwiderte ungerührt Heiðars scharfen Blick und fuhr fort sie auszuziehen. Als er vorsichtig die zerrissenen klebrigen Strümpfe von ihren Beinen rollte, fühlte sie ein unangenehmes Brennen an den Knien. Die sanften Hände hoben ihren Kopf leicht an und lösten geschickt ihr Haar. Morten vergass auch nicht, ihr die Uhr und den Schmuck abzunehmen. Heiðar wandte immer wieder den Kopf, um alles genau mitverfolgen zu können, obwohl er dabei schreckliche Schmerzen litt. „Trink erst dein Blut. Morten tut bloss seine Pflicht. Er wird sie nicht auf unangebrachte Weise berühren“, beschwichtigte Fionn und fasste ihn mit Nachdruck am Kinn, um ihn zum Weitertrinken zu bewegen. Er gehorchte und leerte das Glas mit drei Schlucken. Es half tatsächlich, allmählich kehrten seine Kräfte zurück. Die wiedergewonnene Stärke liess allerdings auch den Hass auf Rúnas Peiniger auflodern. Sie hatte mehrere dunkelrote Flecke an den Armen und einen hässlichen Bluterguss am Oberschenkel, davon ausgehend einen langen Kratzer, der bis zum Knie reichte, und die Schürfwunden vom Sturz auf den Asphalt. Er wollte sie an sich ziehen, um die Verletzungen und diesen ekelhaften Geruch, den George auf ihrem Körper hinterlassen hatte, wegzustreicheln.
„Den Kratzer und die Schürfungen desinfiziere ich. Für die Hämatome habe ich eine Salbe, die kühlt und den Heilungsprozess beschleunigt“, informierte Morten ruhig, während er in seiner Tasche kramte. „Möchtest du, dass ich die Schürfwunden abdecke?“ Heiðar schüttelte entschieden den Kopf, was ihm gleich wieder höllische Schmerzen in der aufgerissenen Schulter bescherte. Der feine Blutgeruch würde ihn heute Nacht auf keinen Fall verführen. Nicht nachdem er seine Rúna beinahe verloren hätte.
Sie verzog leicht das Gesicht, als Morten Jod auf die roten Spuren an Knien und Handballen tupfte. Danach griff er zu einer weissen Tube und drückte etwas Salbe heraus. Sie bekam noch mehr Gänsehaut und schüttelte sich, als die kalten Hände die kühlende Crème auf Arme und Oberschenkel auftrugen. „Gleich kannst du schlafen.“ Er schraubte blitzschnell den Deckel auf die Tube und legte sie
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