Silbernes Band (German Edition)
tief, sah aber ebenfalls hässlich aus. In Rúnas Übelkeit mischten sich Tränen der Wut. Wie konnte jemand, egal ob Mensch oder Unsterblicher, so grausam und hasserfüllt sein? Sie kannten noch nicht einmal den Grund dafür! Gab es überhaupt einen? Taten gewisse Unsterbliche so etwas zum Spass, weil ihnen die Unsterblichkeit keine Zerstreuung mehr bot?
„Es sieht erstaunlich gut aus, wenn man die Schwere der Verletzungen bedenkt. Die lädierten Gefässe haben sich bereits weitgehend regeneriert, und die durchtrennten Nerven und Muskelstränge scheinen ohne bleibende Schäden zusammenzuwachsen. Du wirst deinen Arm wieder ganz normal gebrauchen können. Um George’s Geruch vollständig zu eliminieren, sollten die Wunden saubergeleckt werden. Wenn du erlaubst, kümmere ich mich um die Wunde an der Schulter, den Arm kannst du selbst säubern.“ Rúna verzog angeekelt das Gesicht, was Morten nicht entging. „Es wird den Heilungsprozess beschleunigen. Auf diese Weise sollten die Wunden in wenigen Tagen geschlossen sein.“
Heiðar tauchte wortlos aus Rúnas Locken hervor, hob den verletzten Arm und begann die Wunde zu lecken. Er zuckte zusammen und in seinem Gesicht erschien ein Ausdruck von Ekel. „Verzeihung, das wird etwas wehtun“, warnte Morten, bevor er sich über die aufgerissene Schulter hermachte. Heiðars Oberkörper verkrampfte sich vor Schmerz, und er stiess ein tiefes Knurren hervor, während er weiter seinen Arm leckte.
Rúna wollte eigentlich lieber nicht hinsehen, linste dann aber doch neugierig zu Morten hinüber. Mit erstaunlich starken Armen hielt er den schmerzerstarrten Körper fest. Seine blassrosa Zunge fuhr gründlich bis in die kleinsten Winkel der tiefen Wunde. Seltsamerweise fand sie das nicht mal besonders eklig. Der kleine Morten wirkte wie eine fürsorgliche Löwenmutter, die ein zu gross geratenes Jungtier sauberleckte.
Die Wunde am Arm roch nicht länger nach dem verhassten Kontrahenten, also vergrub Heiðar erneut sein Gesicht in Rúnas Haar und strich mit der gesunden Hand in einem Fort mechanisch über ihren Rücken.
Morten richtete sich wieder auf und machte sich daran, die Verletzungen blitzschnell zu verbinden. „Ich gebe dir noch eine Spritze. Du scheinst das Antibiotikum gut zu vertragen. Ob du es tatsächlich brauchst und ob es zur Heilung beiträgt, kann ich leider nicht wirklich abschätzen. Zur Sicherheit möchte ich es heute und morgen verabreichen. Bist du einverstanden?“ Heiðar nickte schwach. „Was ist mit dem Schmerzmittel? Hast du das Gefühl, es wirkt?“ Er zuckte bloss mit der gesunden Schulter, sprach weiter kein Wort. „Du kriegst heute ein Schmerzmittel, morgen sehen wir weiter“, entschied Morten und bereitete die Injektion vor. Die Armbeuge wurde mit einem Tupfer abgerieben, dann griff Morten zur Spritze und setzte sie an die Vene. „Tut mir leid. Ich fürchte, ich muss mir erst andere Nadeln besorgen.“ Heiðar verzog keine Miene, obwohl Morten sehr viel Kraft aufwenden musste, um durch die Haut stechen zu können. Der kleine Pieks war nichts im Vergleich zur unsterblichen Wundbehandlung.
„Hoffentlich bricht die Nadel nicht ab“, dachte Rúna besorgt. Wie scharf mussten wohl George’s Zähne gewesen sein, wenn er Heiðar damit so übel zugerichtet hatte? Sie schauderte. „Das war’s auch schon.“ Morten tätschelte mitfühlend Heiðars linken Oberarm, dann packte er flink seine Instrumente zusammen, schmiss die blutgetränkten Verbände und die Tupfer in den Mülleimer und wusch sich gründlich die Hände. „Hier ist Wundsalbe für deine Schürfungen. Die Salbe für die Prellungen liegt auf dem Nachttisch.“ Er reichte Rúna eine rote Tube. „Danke, für alles.“ Sie versuchte ein Lächeln, das er erwiderte. „Ich lasse euch jetzt allein. Ruft einfach, falls ihr mich braucht.“ Ein freundliches Nicken, und schon war er verschwunden.
„Ich muss aufs Klo und unter die Dusche.“ Rúna löste sich von Heiðar und stand auf. Sie holte sich die Salbe vom Ablagetisch im Schlafzimmer und ein T-Shirt, saubere Unterwäsche und eine Jogginghose aus dem Ankleideraum. Heiðar hatte das Bad ebenfalls verlassen. Er stand schweigend am Schlafzimmerfenster und blickte in den Londoner Nebel hinaus.
Zurück im Bad streifte sie die dicken Socken ab und zog sich den Pyjama aus. Darunter trug sie den schwarzen Slip. Wie gut, dass Morten ihr den nicht auch ausgezogen hatte. Sie stieg in die Duschkabine und stellte sich in den warmen Regen.
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