Silbernes Band (German Edition)
nach, den Schäfchen-Pyjama mitzunehmen, liess es schliesslich bleiben. Heiðar lieh ihr bestimmt eines seiner T-Shirts, am liebsten eins, das er schon getragen hatte... Anschliessend zog sie sich für die Arbeit um. Sie wählte ein zartgrünes T-Shirt mit langen Ärmeln und ein hellgrünes Strickkleid aus leichter Wolle, mit traditionellem Muster am Ausschnitt, dazu dicke hellrote Strümpfe und ihre schicken Stiefel im Reiterstil. Das Haar band sie zusammen und trug etwas Puder, Wimperntusche und Lippenstift auf.
Heiðar wartete geduldig auf dem blauen Sofa im Wohnzimmer. “Du siehst umwerfend aus”, beschied er, als sie kurz um die Ecke blickte. “Lass uns gehen, Dóra mag es nicht, wenn man zu spät kommt.” Ein kühler Lufthauch erreichte den Flur. “Darf ich?” Hatte sie gepennt, oder war er wirklich so schnell vom Sofa aufgestanden? Er strich den Kragen ihres Mantels glatt, berührte dabei ganz unauffällig ihren Hals. Sie kriegte eine Gänsehaut, ein glühendes Frösteln. “Meine Tasche.” Er war bereits in Schuhe und Jacke geschlüpft und kam ihr zuvor. Waren alle Handballer so flink?
Zwei Minuten vor Eins parkten sie vor der Buchhandlung. Selbstverständlich begleitete er sie zur Tür. Bevor ihre Schicht anfing, blieben noch exakt 53 Sekunden um sie zu küssen. Die Glocke der Hallgríms-Kirche schlug Eins. Rúna löste sich von ihm und holte Luft. “Bis später.” – “Ich vermisse dich. Ciao Rúna.” Sie verschwand im Gebäude, er zwang sich, schnurstracks zum Hotel Borg zu fahren. Wie gut, dass er sich mit Fionn verabredet hatte, dann brauchte er nicht die ganze Zeit daran zu denken, dass andere Männer seine Rúna womöglich genauso begehrenswert fanden wie er.
Landpartie
“Wir sollten aufs Land fahren. Das wird dich etwas ablenken”, schlug Fionn vor. “Gute Idee. Let’s go.”
“Darf ich?” Fionn begab sich zur Fahrerseite des Tiguan. Heiðar betätigte die Fernöffnung und warf ihm mit einer lockeren Handbewegung den Schlüssel zu. Sie stiegen ein und brausten zügig los. Fionn steuerte den Wagen über den Vesturlandsvegur in Richtung Mosfellsheiði. “Ist ein ziemlich nettes Auto”, lobte er grinsend, während er die Leistung des Motors auf Herz und Nieren prüfte. “Allerdings bevorzuge ich die Marke mit dem Stern, schon seit sehr vielen Jahren. Ich bin vermutlich der treueste Kunde, den man sich vorstellen kann. Mein erster Wagen war der Simplex 60 PS von 1904.” - “Hättest du da nicht schon längst eine Prämie verdient? Ein hübsches Modell der S-Klasse vielleicht?” Fionn seuftze theatralisch. “Zu dumm, dass ich meine Identität alle paar Jahre ändere. Muss wohl daran liegen, dass man mich nicht berücksichtigt.”
“Wie machst du das eigentlich? Wo besorgst du dir deine Papiere?” – “Die Gesellschaft der Unsterblichen betreibt ein eigenes Passbüro. Dank unserer speziellen Fähigkeiten sind wir in der Lage, absolut perfekte Fälschungen herzustellen.” Heiðar war beeindruckt. “So, so. Und was ist deine momentane Identität? Ich hoffe doch nicht ein abgebrannter Finanzwikinger?” Er zwinkerte frech zu seinem Vater hinüber, und Fionn grinste schelmisch. “Da mein momentaner Lebensmittelpunkt in London liegt, gebe ich mich als englischer Geschäftsmann aus. Das hat den Vorteil, dass ich meinen richtigen Vornamen benutzen kann. Für die Sterblichen bin ich Mister Fionn Bradshaw.” – “Und wieviele Identitäten hast du?” – “Zurzeit kann ich auf fünf Pässe aus verschiedenen Ländern zurückgreifen: Ich bin gleichzeitig Engländer, Franzose, Norweger, Kanadier und besitze sogar den begehrten roten Pass aus der Schweiz. Ich hatte aber auch schon Pässe aus Irland, Deutschland, Dänemark, Schweden, Finnland Luxemburg, Belgien, Holland, Österreich und den USA. Länder, woher ich dem Aussehen nach stammen könnte. Einen isländischen Pass besitze ich bisher nicht, aber ich denke darüber nach. Zurzeit erscheint es mir am sinnvollsten, wenn ich dein englischer Cousin bleibe.”
“Glaubst du, dass ich eines Tages auch eine andere Identität annehmen muss? Im Vergleich zu meinen menschlichen Freunden scheint mein Alterungsprozess um einiges langsamer abzulaufen. Es ist mir in den letzten Jahren bewusst geworden. Einige meiner Kumpels haben schon jede Menge graue Haare und da und dort ein paar Fältchen. Mich schätzt man für gewöhnlich auf Mitte Zwanzig.” Fionn überlegte einen Moment. “Leider fehlen uns da die Erfahrungswerte. Wir
Weitere Kostenlose Bücher