Silbernes Band (German Edition)
„Willst du mir davon erzählen?“ Er langte hinüber zum Nachttisch und reichte ihr das Wasserglas, das sie in einem Zug leer trank. „Ich bin gleich wieder da.“ Blitzschnell huschte er ins Bad, wo er einen feuchten Waschlappen und die Schachtel Kleenex holte. Sie war zu verwirrt, um zu realisieren, wie schnell er sich eben bewegt hatte. „Zeig her.“ Er strich fürsorglich über die Tränenspuren und tupfte behutsam die Schniefnase ab. „Besser?“ Sie nickte und begann mit leiser, gequälter Stimme zu erzählen:
„Ich war acht Jahre alt, als es passierte. Mein Bruder Júlían war damals fünf. Er war ein ziemlicher Lausbub, aber man konnte ihm nie richtig böse sein, er hat alle um den Finger gewickelt.“ Rúna blickte in die Ferne, bestimmt sah sie ihren Bruder jetzt vor sich. „Ich habe versprochen, dass wir zusammen Lego spielen, aber erst wollte ich noch zu meiner Freundin Katrín, die gleich gegenüber wohnte. Ich ging los und überquerte die Strasse. Als ich das Gartentor öffnen wollte, das zu Katríns Haus gehört, rief er nach mir. Júlían rannte über den Kiesweg auf unserem Grundstück, durch die Einfahrt auf den Gehsteig hinaus und geradewegs auf die Strasse.“ Sie schloss die Augen. „Ich sah den Wagen kommen, schrie noch, er solle aufpassen, aber es war schon zu spät...“ Ein paar Tränen rannen unter den geschlossenen Lidern hervor. „Das Auto erfasste ihn frontal, er wurde durch die Luft geschleudert, wie eine Puppe, und landete auf dem Gehsteig. Ich rannte so schnell ich konnte zu ihm, wollte ihm helfen...“ Rúna schlug sich die Hand vor den Mund, zuckte, atmete stockend ein. „Er lag da, als würde er schlafen, aber da war soviel Blut... Ich wusste gleich, dass er tot ist! Wäre ich bloss zu Hause geblieben, dann könnte er heute noch leben... Seither träume ich immer wieder davon. Ich weiss nicht, wie oft ich ihn schon sterben sah...“ Ihre Stimme brach, und sie fing wieder an zu weinen.
Er legte die Arme um sie, wie schützende Flügel. Genau wie Snorri schien er sich nicht vor ihren Tränen zu fürchten, nahm es selbstverständlich hin und versuchte ihr Halt zu geben. Nach einer Weile spürte sie, wie der Schmerz allmählich leichter zu ertragen war.
„Du darfst dir nicht die Schuld daran geben. Es war ein schrecklicher Unfall“, meinte er sanft. „Das haben meine Eltern auch gesagt, aber es ist nun mal so. Wäre ich nicht zu Katrín rüber gegangen, dann hätte er mir nicht nachlaufen müssen. Wir hätten zu Hause gespielt, als das Auto vorbeifuhr.“ – „Du kannst es damit nicht ungeschehen machen, Rúna. Bestimmt würde Júlían nicht wollen, dass du dich so quälst.“ Sie blickte schniefend zu ihm hoch. „Hattest du auch schon solche Schuldgefühle?“ Heiðar nickte: „Nicht, weil ein Mensch gestorben ist, aber ich habe sehr oft starke Schuldgefühle, weil ich Dinge tun muss, die mir zuwider sind. Es fällt mir nicht leicht, damit umzugehen.“ – „Was für Dinge sind das, die du tun musst? Bitte erklär es mir.“ Er atmete hörbar aus. „Ich hoffe, dass ich dir eines Tages davon erzählen kann, aber nicht heute.“ - „Du vertraust mir nicht“, stellte sie traurig fest. Er fasste nach ihrer Hand und küsste sie zärtlich. „Du bist die Frau, der ich alles anvertrauen möchte. Gib mir noch etwas Zeit.“ – „Wie war das in deinen bisherigen Beziehungen? Hast du diese Frauen auch bloss mit seltsamen Anspielungen abgespiesen?“ – „Das war nicht notwendig. Ich habe bisher noch nie jemanden so nah an mich heran gelassen. Deshalb ist es auch so schwer, mich dir anzuvertrauen.“ - „Was für Beziehungen waren das? Man hört so einiges... “ Er versuchte ein Lächeln und stellte sich dem Unausweichlichen. „Es waren ... ziemlich viele ... und bisher nichts Ernstes. Das klingt jetzt furchtbar klischeehaft, aber keine andere Frau hatte je eine solche Wirkung auf mich. Ich möchte immerzu bei dir sein. Wenn wir zusammen sind, bin ich im Gleichgewicht. Und ich begehre dich unendlich, und zwar meine ich nicht nur körperlich, sondern dich, alles was dich ausmacht.“
Er hatte die heikle Klippe, was das Blut betraf, geschickt umschifft. Rúna dachte über seine Worte nach. Sie standen doch erst am Anfang ihrer Beziehung. Klar, dass er solche Sachen sagte, es klang sogar ziemlich überzeugend. Und wie fürsorglich er sich eben um sie gekümmert hatte. Das hatte sich unglaublich gut angefühlt. Sie könnte seine Worte glauben und ganz nah an ihn
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