Silbernes Band (German Edition)
habe viele Fragen an dich.“
Dass sie es bereits wusste, konnte nur eins bedeuten: „Hat Fionn...“ – „Warte.“ Sie legte den Zeigefinger an die Lippen, strich eine Locke hinters Ohr und räusperte sich. „Tötest du Menschen... um an das Blut zu kommen?“ Er atmete beinahe erleichtert aus. „Nein, ich trinke kein menschliches Blut. Aber ich gehe etwa alle zwei Wochen auf die Jagd... nach Tieren. Ich musste auch gestern wieder jagen, war deshalb in einem Nationalpark in Norwegen. Wenn ich zu lange nicht jage, werde ich gefährlich, deshalb war ich so abweisend zu dir. Ich war sehr durstig und hatte Angst, dass ich dir etwas antun könnte. Dein Blut... hat eine sehr starke Wirkung auf mich.“
Sie schnappte hörbar nach Luft, fasste sich aber gleich wieder. „Wirst du mich... beissen?“ Er hob beschwichtigend die Hände und schüttelte energisch den Kopf. „Als ich dich das erste Mal sah, hätte ich beinahe die Beherrschung verloren. Aber ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren. Ich liebe dich.“ Rúna lächelte ein bisschen. „Kristín hat auch gesagt, dass du mir nichts tun wirst. Ich hoffe, sie hat Recht.“ Er hob den Blick, sie sah Hoffnung darin aufblitzen. „Warum hast du mich im Schlaf festgehalten? Du hast mir sehr wehgetan.“ – „Es tut mir schrecklich leid. Ich habe geträumt, Kristín wollte dich mitnehmen, aber ich konnte dich nicht hergeben, deshalb habe ich dich festgehalten. Im Schlaf war mir nicht bewusst, wieviel Kraft ich aufgewendet habe. Ich wollte dir nicht wehtun. Normalerweise habe ich keine Probleme damit, mich zurückzunehmen. Kristín hat mir schon früh beigebracht, vorsichtig mit Menschen umzugehen.“
Rúna zog die Beine auf den Sessel. „Jagst du immer im Ausland? Tötest du nur bestimmte Tiere?“ Jetzt wurde es heikel, er dachte an die Zeitungsberichte. „Es ist vor allem im Herbst und Winter schwierig, in Island zu jagen. Im Ausland gibt es viel Wild: Hirsche, Rehe, Rentiere und Elche. Du weisst, welche Tiere hier leben. Im Norden und im Osten kann ich auf Rentiere ausweichen, aber hier im Süden gibt es nur Schafe, Kühe und...“ – „Pferde!“ Rúna stöhnte gequält auf. Ein weiteres Puzzleteil fand seinen Platz, eines nach dem sie gar nicht gesucht hatte. Er nickte stumm, bestimmt war jetzt alles aus. „Ja, ich bin das Monster von Borgarnes. Dein Pferd fürchtet mich zu recht.“ Er sah Tränen in ihren Augen. Sie hatte ihr Pferd unbewusst grosser Gefahr ausgesetzt. Hnota wäre niemals freiwillig zu ihm hingegangen, sie hatte - im Gegensatz zu ihr – sofort erkannt, was er war. „Wolltest du Hnota etwas antun?“ – „Niemals! Ich weiss doch, was sie dir bedeutet. Es ist nicht so, dass ich gleich die Beherrschung verliere, wenn ich ein Pferd oder ein anderes Tier sehe. Ich muss mich immer erst zur Jagd überwinden. Ich würde gerne auf das Töten verzichten, aber ich brauche das Blut. Seit ich weiss, dass du Pferde liebst, habe ich entschieden, keine Pferde mehr zu jagen. Und seit du mir dieses schöne Erlebnis mit der kleinen Braunen ermöglicht hast, erst recht nicht mehr.“
„Dieses Pferd in Borgarnes...“, sie musste sich überwinden, weiter darauf einzugehen. „Ich habe gehört, dass sein Genick gebrochen war. Heisst das, du tötest deine Opfer, bevor du das Blut trinkst?“ Seine Antwort brauchte genauso Überwindung: „Nein, das ist nicht üblich. Ich konnte nicht alles Blut trinken, aber das Pferd sollte nicht lange leiden, deshalb habe ich ihm das Genick gebrochen.“ Sie versuchte auszublenden, was das bedeutete: Dass er, wie bei Vampiren üblich, dem lebenden Opfer in den Hals biss und sein Blut saugte, bis es starb. In einem der Zeitungsartikel war von getöteten Fohlen die Rede gewesen. Sie wagte nicht, ihn darauf anzusprechen, hoffte einfach, dass es sich um eine reisserische Schlagzeile handelte, um die Emotionen der Leser anzuheizen. Ihre Gefühle überforderten sie. Sie wollte bloss, dass ihre Welt wieder in Ordnung kam. „Gibt es keine andere Möglichkeit? Musst du töten?“ Er war erleichtert, dass sie nach einem Ausweg fragte, das gab ihm Gelegenheit, den Schwerpunkt des Gesprächs in ruhigeres Fahrwasser zu lenken. „Mein Vater ernährt sich zum grössten Teil von menschlichem Spenderblut, dafür muss niemand sterben. Ich überlege mir, es auch auszuprobieren.“ Rúnas Stichwort war gefallen, sie wollte ihm nun von ihrer Begegnung mit Fionn erzählen.
Sie gab sich einen Schubs und reckte das Kinn:
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