Silver Moon
eine Trage braucht er heute nicht mehr. Gestern mussten wir ihn zur Hütte tragen, aber seine Genesung schreitet gut voran. Ich habe ihm heute Morgen ein Antibiotikum gespritzt; es wäre gut, wenn er noch zwei weitere Tage die Injektionen bekommt. Die Spritzen und das Serum sind ebenfalls in der Hütte, mein Bruder kann es Ihnen mitgeben!«
Der alte Mann nickte wohlwollend in meine Richtung.
»Meine Dankbarkeit ist nicht in Worte zu fassen. Ich nehme die Medizin gerne an und unser befreundeter Tierarzt wird sie ihm spritzen.« Das lief bisher alles sehr gut, kam es mir in den Sinn, aber ich machte mir Vorwürfe wegen der Bretter und wusste nicht, wo ich beginnen sollte. »Da wäre noch etwas …«
Anouk und Bob sahen mich auffordernd an und ich blickte beschämt zu Boden. »Es ist so … Ich, äh, bei uns zu Hause … da war der Zaun kaputt. Ich brauchte Holz für die Reparatur und das habe ich Prinz, ich meine, Ihrem Hund erzählt. Ich weiß, wie verrückt das klingt, aber irgendwie muss er mich verstanden haben, denn er führte mich zu einem Stapel mit Brettern im Wald. Ich habe nicht nachgedacht und fünf davon mitgenommen. Mein Bruder erzählte mir später, es seien Ihre Bretter! Das tut mir sehr leid, ich wollte niemandem etwas stehlen und würde sie Ihnen gerne bezahlen. Ich hoffe, Sie sind nicht böse, weil …« Robert Black Bird hob seine Hand und ich verstummte mitten im Satz. Es sah so erhaben aus, wie der alte Herr mit dem langen grauen Haar vor mir stand und seine flache Hand zum Schweigen erhoben hatte.
»Kira Bach, unsere Familie steht tief in deiner Schuld. Du hast unseren Freund in seinen schwersten Stunden aufgenommen, ihn umsorgt und sein Leben gerettet. Was uns ist, ist auch dir – du kannst dir so viele Bretter nehmen, wie du möchtest! Und egal, was du oder deine Familie jemals braucht – sollten wir es besitzen, ist es auch Eures!«, sagte Bob und verneigte sich. Ich war verblüfft und beschämt. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Du hast unseren Freund in seinen schwersten Stunden aufgenommen …
Wow, ging es mir durch den Kopf. Ich war erstaunt, welch innige Bindung Familien mit indianischen Wurzeln zu ihren Tieren zu haben schienen. Kein Wunder, dass mein Prinz so menschlich war, dachte ich und verstand plötzlich meine kleine Schwester und ihren Wunsch, eine Indianerin zu sein, immer besser. Eine derartig große Liebe, wie ich sie hier zu einem Tier erfahren durfte, hatte ich selbst noch nie erlebt. Schweigend stand ich auf dem Hof und konnte es kaum fassen. Ich war glücklich, da mein Prinz bald wieder bei diesen wundervollen Menschen sein würde.
»Ich werde ihn jetzt holen und bedanke mich im Namen unserer Familie noch mal aus tiefstem Herzen bei dir!«, sagte Bob und ich musste an Kais Warnung denken.
»Geben Sie bitte acht! Im Wald treibt sich oft ein Mann herum, er lebt hier in der Nähe, Magnus Brock heißt er. Er war es vermutlich, der Ihren Hund angeschossen hat, und er wird es wieder tun, wenn er ihn sieht! Bitte – passen Sie auf, decken Sie ihn am besten ab, ich will nicht, dass ihm noch mal etwas zustößt«, warnte ich besorgt. Robert Black Bird kam zu mir und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Ich hatte gedacht, an diesem Tag nicht weiter überrascht werden zu können, aber Bob schaffte es immer wieder.
»Sei dir sicher, wenn ich bei ihm bin, wird niemand auf ihn schießen, auch nicht dieser Wilderer Magnus Brock, den ich nur zu gut kenne! Hab keine Furcht um unseren Hund; ich bringe ihn heil nach Hause!« Ich glaubte dem alten Mann aufs Wort.
Als ich mich endlich auf den Weg zur Arbeit machte, saß ich nachdenklich im Wagen und fuhr ganz langsam über die Landstraße. Robert Black Bird und Anouk wollten nicht mehr aus meinen Gedanken verschwinden. Sie waren jene Art von Menschen, die einen nachhaltigen Eindruck hinterließen – einen Eindruck, den ich niemals wieder vergessen würde und der etwas in meinem Leben verändert hatte, nur was, darüber war ich mir noch nicht im Klaren.
Es war bereits vier Uhr, als ich endlich in der Klinik ankam. Eine ganze Stunde hatte ich mich noch nie verspätet und trotzdem war es mir egal. Ich betrat mit einem gewissen Taubheitsgefühl die Station. Mir war, als sei ich nach einem langen Schlaf erwacht und fühlte mich noch immer schummrig. Selbst als Christiane auf mich zustürmte und mich mit Fragen bombardierte, die Stationsschwester mir eine Standpauke hielt und die Oberschwester, Frau Peters, sich über meine unentschuldigte
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