Silvy macht ihr Glück
Portalen, an einem kleinen schiefen Haus vorbei mit einer Wirtschaft, aus der es nach Lammfleisch, Zwiebeln und Öl roch. Dann begann der Aufstieg zum Kloster.
Jean war wirklich ein ausgezeichneter Reiseführer. Er führte sie durch das mächtige Refektorium, und Sylvi fühlte sich in das Mittelalter versetzt. Erhielt sie behutsam am Arm, als sie durch die Krypta mit ihren schweren Pfeilern gingen. Und er erzählte leise, während sie durch den „Salle des Chevaliers“ gingen, unter den wundervollen gotischen Bögen der Klostergalerie.
Dann zeigte er ihr die Tretmühle, das große Schöpfrad, das die Mönche taktfest und geduldig traten und immer wieder traten. Schließlich besuchten sie die winzig kleine „Chapelle St. Aubert“, die abgesondert weit draußen am Meer lag. Hier blieben sie stehen. Sylvi achtete nicht darauf, daß Jeans Arm um ihre Taille lag, aber er spürte die Wärme ihres Körpers.
„Sylvi, haben Sie Badezeug mit?“
Diese sehr alltägliche Frage brachte Sylvi in die Wirklichkeit zurück. Sie lachte.
„Natürlich. Und Sie?“
„Selbstverständlich. Aber jetzt kommt bald die Flut. Kommen Sie, wir gehen auf die Bastion, da werden Sie etwas Ungewöhnliches erleben.“
Jean hatte nicht zuviel versprochen. Sylvi wußte zwar, daß der Wechsel von Ebbe und Flut sich hier ganz anders zeigte als daheim in Norwegen, wo man höchstens riskieren konnte, daß ein Ruderboot halb trocken liegenblieb, wenn man es nicht genügend weit draußen vertäut hatte. Aber daß es so sein konnte…
Die Wassermassen kamen angestürmt, tobend, mit weißen Schaumkronen. Sie verwandelten weite Sandstrecken in ein brausendes Meer. Wehe dem, der dies nicht kannte und den verlockenden Strand entlang eine längere Wanderung gemacht hatte!
Sylvi klammerte sich unwillkürlich fester an Jean, und er legte den Arm enger um sie.
„Ja“, sagte er, „das ist schon ein merkwürdiges Erlebnis. Wissen Sie, daß das Wasser so schnell steigt, daß nicht einmal ein galoppierendes Pferd damit Schritt halten kann?“
Seine Stimme klang so wunderlich, als ob seine Gedanken gar nicht bei dem waren, was er sagte. Plötzlich wurde sich Sylvi bewußt, wie eng umschlungen sie dastanden.
„Sylvi, Sylvi“, seine Stimme war leise und heiser.
„Sie haben sehr richtige Dinge über die Ritterlichkeit gesagt, kleines Mädchen, und ich weiß… ich… Aber Sylvi, wie ist das denn bei Ihnen in Norwegen? Kommt es nicht vor, daß junge Menschen sich vergessen? Können die immer nur ritterlich sein? – Sie antworten nicht, Sylvi. Sehen Sie, eigentlich sind wir ja in allen Ländern gleich, wir sind alle Menschen, wir haben dieselben Wünsche, dieselben Gefühle. Ach, Sylvi, Sie sind so bezaubernd, so wunderbar…“
Sylvi fühlte sich wie gelähmt. Diesem mächtigen jahrhundertealten Bauwerk gegenüber empfand sie sich selbst wie ein Nichts, sie fühlte sich klein und schwach beim Anblick der tobenden Wassermassen, dieser Entfaltung und Sichtbarwerdung gewaltiger Naturkräfte, und sie fühlte sich völlig wehrlos in Jeans Arm.
Und da, im Schatten der tausendjährigen Klostermauern, im Donnern des Meeres, unter der glühenden Julisonne Frankreichs, küßte Jean sie. Er küßte sie so, wie sie noch nie geküßt worden war.
Sie sprachen nicht. Aber als Sylvi sich endlich sehr zögernd und behutsam aus der Umarmung löste, strich er ihr über die Haare. Schweigend gingen sie vom Kloster hinunter in das Städtchen.
Erst als sie wieder in den winkligen schmalen Gassen waren, sprach Jean. Seine Stimme war weich und voll von der Musik der französischen Sprache.
„Nun, Kleines, wollen wir jetzt schwimmen gehen?“
Ein Lächeln schwebte um Sylvis Mundwinkel. Wie süß das klang: „Petite.“
Petite…
„Ja“, sagte Sylvi, „gehen wir schwimmen.“
Es war wunderbar, in das kühle salzige Wasser zu kommen. Sylvi legte sich auf den Rücken und ließ sich treiben. Jean legte ihr den Arm unter den Nacken, und sie ließen sich von den Wellen sanft schaukeln.
Später tranken sie Tee in einer kleinen Wirtschaft, und dann mußten sie an die Heimfahrt denken.
Jean sprach während der Fahrt nicht, und Sylvi war froh darüber. Sie mußte nachdenken. Alles war so überstürzt gekommen, daß sie verwirrt war. Welche Absichten hatte Jean? Wieviel meinte er? Warum schwieg er jetzt?
Über die Franzosen hatte sie gehört, daß sie ernsthafte Absichten hätten, wenn sie sich einer Dame gegenüber so viel herausnahmen. Und was sollte sie antworten,
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